Der digitale Zwilling gilt als eine der vielversprechendsten Anwendungen im Zeitalter von Industrie 4.0. Durch anwendungsübergreifendes Erfassen und Digitalisieren von realen Anlagen, Produkten oder Prozessen überwindet er Systemgrenzen und öffnet gleichzeitig die Türen für eine flächendeckende Vernetzung. Vor allem im Bereich Prozessmanagement bieten sich völlig neue Möglichkeiten.
Als virtueller Stellvertreter repräsentiert ein digitaler Zwilling meist ein reales Objekt, egal, ob es sich bei diesen Objekten um ein materielles, immaterielles oder um einen Prozess handelt. Digitale Zwillinge sind aus Daten und Algorithmen aufgebaut. Sie sammeln und analysieren Daten zu physischen Objekten, etwa von Maschinen und Automobilprototypen bis hin zu digital abgebildeten Prozessen in einer Fertigungsanlage. Gestützt auf Sensordaten bilden sie den aktuellen Systemzustand unter realen Bedingungen ab, bieten einheitliche Schnittstellen zu Daten und Diensten und ermöglichen es, daraus Prognosen über Eigenschaften, Leistungen und Betriebsverhalten eines Objekts abzuleiten. Dem Einsatz digitaler Zwillinge sind nahezu keine Grenzen gesetzt: Von der Fabriksimulation und Anlagensteuerung über vorausschauende Wartung (Predictive Maintenance) bis hin zur Regulierung des Straßen- und Flugverkehrs sowie der allgemeinen Versorgung ist heute alles denkbar und technologisch auch umsetzbar.
Der digitale Objekt-Zwilling
Mithilfe eines digitalen Objekt-Zwillings erfahren Unternehmen, wie Anwender mit einem realen Produkt interagieren und wie sich das Produkt in bestimmten Situationen verhält. Er hilft ihnen beispielsweise, die Lücke zwischen Konzeption und Umsetzung eines Projektes zu schließen oder datengestützte Entscheidungen bei der Bewertung einer Anlagenleistung zu treffen. So lässt sich etwa durch vorausschauende Wartung die Leistungsfähigkeit einer Maschine verbessern. Muss ein Bohrkopf in einer Maschine nach 50.000 Bohrvorgängen ausgetauscht werden und stehen täglich 800 Bohrungen an, meldet sich der digitale Zwilling früh genug, so dass Maßnahmen eingeleitet werden können. Die Verantwortlichen können nun den neuen Bohrkopf mit dem nötigen Vorlauf bestellen und ihn rechtzeitig austauschen, bevor Qualitätsprobleme bei den Werkstücken auftreten.
Der digitale Prozess-Zwilling
Anders als digitale Objekt-Zwillinge, die eine Kopie materieller oder immaterieller Objekte darstellen, bilden Prozess-Zwillinge die Abläufe von Prozessen digital ab, beispielsweise „Procure to Pay“, „Order to Cash“ oder „Record to Report“. Analog zum Objekt-Zwilling, der in einer Fabrik Anlagenprobleme frühzeitig erkennt und meldet, identifiziert der Prozess-Zwilling mittels digitaler Prozessabbildungen und Simulationen Ressourcenengpässe, fehlerhafte Prozessausführungen, Zeitverschwendungen und Leerläufe und übermittelt diese an Prozessverantwortliche sowie Prozessbeteiligte. Auch Wartungsprozesse lassen sich auf diese Art abbilden und erleichtern es den zuständigen Ingenieuren, sich besser auf reale Wartungen vorzubereiten.
Umfassende Prozesstransformation
Um Prozesse über das gesamte Unternehmen hinweg ganzheitlich zu transformieren, braucht es jedoch das Zusammenspiel von Objekt- und Prozess-Zwilling. In der Anlagensteuerung beispielsweise lässt sich durch Integration verschiedener Formen eines digitalen Zwillings zusätzlich auch die Routen- und Urlaubsplanung der Techniker, die Planung der Fertigung, das Pricing der Endprodukte bis hin zur Logistik und Auslieferungszeit simulieren, planen, optimieren und durchführen. Alles greift ineinander.
In der Praxis kann ein solcher Ansatz aufdecken, welche Prozessschritte simultan statt sequenziell ablaufen können, um den Prozess zu beschleunigen. Oder er präsentiert Optionen, wie sich die Sequenz ändern ließe, um Fehler und Leerläufe zu vermeiden oder auf besondere Ereignisse, beziehungsweise Risiken zu reagieren. Dieses große Potenzial von Digital Twins, über Einzelprozesse hinauszukommen – bis hin zum „Digital Organization Twin“ – entdecken Firmen aller Branchen gerade erst.
Schnellere Prozesstransparenz
Im Gegensatz zum früheren Business Process Management müssen Prozessverantwortliche heute Arbeitsabläufe nicht mehr mit Stoppuhr und Arbeitsplatzbeobachtung analysieren. Stattdessen werden die digitalen Prozess-Zwillinge auf Basis von Process Mining oder Low Code modelliert und intelligent mit Daten angereichert, sodass Unternehmen sehr viel schneller Prozesstransparenz erreichen. Die verantwortlichen Mitarbeiter können frühzeitig Veränderungen in der Simulation durchspielen und Optimierungspotenzial finden: Wie sollen Prozesse zukünftig aussehen? Welche Ressourcen und Systeme benötige ich dafür? Was kostet der Prozess? Die Antworten des Prozesszwillings erleichtern strategische Entscheidungen der Unternehmensführung zu Standorten, Personal und Investitionen. Ein weiterer Unterschied ist, dass der digitale Zwilling direkt ausführbare Prozess-Workflows bieten kann (Process Execution).
Digitale Prozesszwillinge unterstützen Unternehmen dabei, viel zügiger von der Ist-Analyse der Prozesse über die Soll-Simulation zukünftiger Prozesse bis zur Implementierung zu kommen. Ein solches ganzheitliches Konzept basiert auf dem Aufbau von immer mehr digitalen Zwillingen und deren Integration innerhalb eines einheitlichen Frameworks. Nötig sind dafür vier Komponenten:
- Eine Modellierungs- und Simulationsengine für Prozesse: Das Modul Process Design ermöglicht, verschiedene Szenarien mittels Prozesssimulation durchzuspielen. In einem Prozessportal können Prozesse in einer kollaborativen Umgebung angepasst werden: Was passiert, wenn wir das Werkstück erst fräsen und dann bohren?
- Eine Low-Code-Prozessausführungsplattform: Im Bereich Process Execution geht es darum, ausführbare Prozesse und Workflows zu entwickeln, Prozesse anhand von Prototypen zu simulieren sowie die Prozessperformance zu überwachen und Prozesse iterativ weiterzuentwickeln: Warum ist die Produktion montags durchschnittlich um zehn Prozent geringer?
- Ein Process-Mining-Tool zur Echtdaten- und Echtzeit-Analyse: Das Modul Process Mining sorgt für die datenbasierte Analyse der Funktionsweise von Prozessen und automatische Erstellung eines digitalen Abbilds der realen Arbeitsabläufe: Was passiert eigentlich genau, nachdem der Bedarf für einen neuen Bohrkopf festgestellt wurde?
- Eine Risikosimulation, um strategische und operative Risiken innerhalb der Prozessausführung zu überwachen: Risk Simulation hilft, Situationen einzuschätzen und Abhängigkeiten zu reduzieren. Es geht zum Beispiel darum, die Auswirkungen abzuschätzen, die die Verzögerung der Lieferungen von Komponenten haben kann oder der Ausfall bestimmter IT-Systeme: Was sind die betriebswirtschaftlichen Konsequenzen, wenn sich die Lieferung von Bohrköpfen bei Lieferant A einmal zwei Wochen verzögert?
Alle Komponenten unterstützen im Zusammenspiel den kompletten Lebenszyklus von Prozessen. Es gilt, sich zunächst eine technische Grundlage zu schaffen, mit der sich alle zukünftigen Bedürfnisse des Unternehmens zur Ressourcen-, Kosten- und Mengenplanung sowie Prozessoptimierung abbilden lassen. In einem zweiten Schritt werden die verschiedensten Zwillinge dann erstellt, nachjustiert und in die Prozesslandschaft integriert.
Eine derartige Prozessumgebung entsteht nicht auf dem Reißbrett und auch nicht von heute auf morgen. Unternehmen starten in der Regel mit einer Prozessanalyse, um zukünftige Abläufe auf Machbarkeit, Nutzen und Digitalisierungspotenziale zu erfassen. Mittels Process Mining werden dann Echtdaten aus bestehenden IT-Systemen extrahiert und Schwachstellen evaluiert. Anschließend werden Prozesse in Modellen erfasst und möglichst realitätsnah abgebildet und simuliert. Mittels Low-Code-Technologie werden die Prozesse dann in digitale Prototypen überführt, sodass die Beteiligten bereits in der Frühphase der Planung ein Verständnis dafür entwickeln, wie das digitale Vorhaben aussehen wird.
Die digitale Transformation eines Unternehmens beginnt oft bei der Digitalisierung bestehender Prozesse und führt von dort zu einer immer umfassenderen Automation, die schließlich zu einer vollständigen technologischen Umwälzung führen kann. Nicht nur Prozesse, auch ganze Fabriken könnten zukünftig dank digitaler Zwillinge nicht mehr nur real, sondern auch komplett im Computer bestehen. Digitale Zwillinge repräsentieren damit das Bindeglied in eine Zukunft, in der nicht mehr das physische Produkt oder der analoge Prozess, sondern sein digitales Pendant die Wertschöpfung eines Unternehmens dominieren könnte.