Barrierefreies Anwendungsdesign ist mehr als ein Muss

Jetzt muss es wohl sein: Im Rahmen ihrer Compliance beschäftigen sich viele Unternehmen erstmals mit dem Thema Barrierefreiheit. Die kann aber viel mehr sein als pure gesetzliche Notwendigkeit, und der Weg dorthin ist weniger steinig, als oftmals angenommen.

Die offiziellen Zahlen des Statistischen Bundesamts besagen, dass es in Deutschland rund 10,4 Millionen Menschen mit einer Behinderung gibt. Ihre körperliche oder geistige Beeinträchtigung erschwert die Nutzung von Webseiten, Anwendungen und Betriebssystemen. Doch auch ältere Personen können mit zunehmendem Alter körperlich eingeschränkt sein. Die Gruppe der Senioren (über 65 Jahren) ist rund 18 Millionen groß. Eine relevante Zahl von Menschen, die Probleme damit haben, Webseiten zu benutzen oder in Online-Shops einzukaufen.

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Der rechtliche Rahmen

Mit Ausnahme von Kleinunternehmen (weniger als 10 Beschäftigte und ein maximaler Jahresumsatz von 2 Millionen Euro) sind Firmen gesetzlich dazu verpflichtet, bis zum 28. Juni 2025 ihre Angebote barrierefrei zu gestalten. Dies ergibt sich aus dem neuen Barrierefreiheitsstärkungsgesetz von Juli 2021. Mit ihm ist Deutschland der aus der EU-Richtlinie 2019/882, auch als European Accessibility Act (EAA) bekannt, erwachsenen Verpflichtung nachgekommen, die Richtlinie in nationale Gesetzgebung zu übertragen.

Während das Gesetz in erster Linie den allgemeinen Rahmen setzt, werden Vorschriften und Normen technisch deutlich konkreter. Die EN 301 549 ist eine europäische Norm für Mindestanforderungen an die Barrierefreiheit der Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT), die sich von den „Web Content Accessibility Guidelines“ (WCAG) ableitet. In Deutschland gibt es zusätzlich noch die Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0), die auf die EN 301 549 verweist. 

Hürden bewusst machen

Was sind eigentlich digitale Barrieren? Der erste Schritt zur Verbesserung der Zugänglichkeit besteht darin, sich die Hürden einmal genauer anzusehen. Dazu gehören zum Beispiel:

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  • Schaltflächen: Für Menschen mit visuellen oder motorischen Beeinträchtigungen sind zu kleine Buttons schwer zu erkennen oder zu klicken.

  • Farben: Werden Informationen nur durch Farbe transportiert, erschließen sie sich farbfehlsichtigen und blinden Menschen nicht.

  • Kontraste: Zu geringe Kontraste und Farbpaarungen, die wenig kontrastreich sind, erschweren sehbeeinträchtigten Menschen die Nutzung.

  • Texte: Zu kleine Schriftarten sind bereits für nicht beeinträchtigte Personen, etwa auf mobilen Geräten, ein Problem. 

  • Lesbarkeit: Texte sollten leicht verständlich formuliert sein. Hier können bereits einfache Plug-ins für Redaktionssysteme eine Einschätzung zur Lesbarkeit bieten. Lassen sich Menschen die Texte vorlesen, müssen sie ihnen auch gedanklich folgen können.

  • Bilder: Bilder, Grafiken und Illustrationen sind für sehbeeinträchtigte Menschen nur dann sinnvoll, wenn sie entsprechende Erläuterungen als Textalternative aufweisen..

  • Videos: Hörgeschädigte Menschen haben von Videos nur dann etwas, wenn diese untertitelt sind bzw. gesprochene Texte in Gebärdensprache übersetzt wird. 

  • Pop-ups und Captchas: So sinnvoll Captchas auf den ersten Blick auch sein mögen, so groß sind auch die Schwierigkeiten bei der Nutzung von Screenreadern. Und selbst Menschen ohne Beeinträchtigungen haben oft genug Probleme, diese Hürde zu überwinden. Auch Pop-up-Fenster stellen für assistive Technologien oft ein Problem dar. 

Diese Barrieren im Design- und Entwicklungsprozess zu vermeiden, trägt zur Barrierefreiheit zukünftiger Lösungen bei. 

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Werkzeuge für mehr Barrierefreiheit

Und wie sieht es bei bestehenden Angeboten aus? Die Komplexität moderner IT- und Anwendungsarchitekturen macht es nahezu unmöglich, eine Lösung zu entwickeln, die per Knopfdruck Hürden abbaut. Gleichwohl haben Softwarehersteller die Notwendigkeit erkannt, ihre Produkte bestmöglich nachzurüsten oder zu ergänzen. Ein Beispiel ist etwa Microsoft, das eine ganze Reihe von Tools und Funktionen im Angebot hat, um die Inklusion bei Microsoft 365 zu erhöhen. Live-Untertitel, plastische Reader oder die Barriereprüfung in Office-Dokumenten sind hierfür einige Beispiele.

Zur Beurteilung der Barrierefreiheit stehen einige Tools zur Auswahl. Eines der populärsten Werkzeuge für Web- und App-Entwickler stammt ebenfalls von Microsoft. „Accessibility Insights“ überprüft bereits im Schnell-Check auf 50 verschiedene Kriterien. Prüfungen können für Android, das Web und Windows vorgenommen werden. „Accessible Metrics“ erlaubt den Betreibern von Shops und Webseiten, diese regelmäßig zu überprüfen. So lassen sich Veränderungen schnell erkennen und beheben. Sehr umfangreich sind auch die Optionen von „Lighthouse“, das von Google entwickelt wird. Zudem gibt es auch zahlreiche Tool-Sammlungen für Spezialfälle, wie die Überprüfung von E-Mails, etwa „Accessible Email“.  Web-Crawler wie das Automated Accessibility Audit Web (A3/W) unterstützen beim Monitoring ganzer Webauftritte.

Barrierefreiheit lohnt sich

Bei der Entwicklung von Produkten, Shops und Webauftritt auf die Barrierefreiheit zu achten, lohnt sich für jedes Unternehmen. So erweitern barrierefreie Lösungen nicht nur die potenzielle Zahl der Nutzenden. Sie tragen auch zu einer besseren User Experience bei. Denn jeder Mensch gerät im Alltag in Situationen, in denen seine Interaktion eingeschränkt ist (laute Umgebungen, schlechte Verbindungen, nur eine Hand frei). 

Unternehmen, die auf Barrierefreiheit achten, unterstreichen ihre soziale Verantwortung. Diese Wahrnehmung strahlt positiv ab. In Zeiten, in denen Konsumentinnen und Konsumenten stärker bei der Auswahl von Produkten auf ethische und nachhaltige Gesichtspunkte achten (Stichwort digitale Ethik), ist dies ein nicht zu unterschätzender Faktor. Ein positiver Nebeneffekt für das Marketing: Viele Maßnahmen, die zur Barrierefreiheit von Shops oder Webseiten beitragen, haben einen positiven Einfluss auf das Suchmaschinenmarketing. 

Mit kleinen Schritten zum Ziel

Um die geforderte Barrierefreiheit zu erreichen, gibt es große und kleine Maßnahmen. Relativ schnell und auch teilweise mit den integrierten Funktionen im Content Management System und Webshop umsetzbar, sind punktuelle Verbesserungen. Dazu zählt etwa der konsequente Einsatz von Alt-Attributen für Bilder und Grafiken. Auch die nachträgliche Untertitelung von Videos ist recht schnell zu erreichen. Die Prüfung auf Lesbarkeit und die Überarbeitung in einfache Sprache ist schnell lösbar, wenngleich mit Aufwänden verbunden. 

Eine Überarbeitung von Menüstrukturen, Überprüfung der Bildsprache, Abschaffung von Captchas oder die Nutzung von weniger, aber dafür verständlichen Icons, kommt dagegen wohl erst im Rahmen einer kompletten Überarbeitung in Betracht. Das gilt umso mehr für die Entwicklung einer konsequent durchdachten Bedienbarkeit via Tastatur. 

Bei Angeboten mit der Zielrichtung B2C kann es grundsätzlich sinnvoll sein, sich verstärkt mit dem Thema Spracherkennung zu beschäftigen. Die Kommunikation mittels Chat- und Sprachbots senkt nicht nur Barrieren, sondern kommt den Bedürfnissen von Kundinnen und Kunden entgegen, die besonderen Wert auf Flexibilität legen oder sich in erster Linie selbst informieren wollen. 

Das Abbauen von Hürden und die Schaffung barrierearmer Angebote ist hingegen nicht nur Notwendigkeit, sondern auch betriebswirtschaftlich sinnvoll.

Anne-Marie

Nebe

Accessibility & Usability Expert

T-Systems Multimedia Solutions

Anne-Marie Nebe arbeitet als Expertin am Kompetenzzentrum für digitale Barrierefreiheit und Software-Ergonomie der T-Systems MMS. Als Gründungsmitglied der IAAP D-A-CH repräsentiert die T-Systems MMS die International Association of Accessibility Professionals (IAAP).Accessibility ist seit vielen Jahren ihr Themengebiet. Ihre Vision ist es, (digitale) Barrierefreiheit in Deutschland zum Mainstream zu machen.
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