Mit Restrukturierungen passen sich Unternehmen an veränderte Märkte an. Fortschritt durch Wandel. Doch die Kehrseite der Medaille ist: Während der Umorganisation geht häufig die Produktivität zurück.
Flucht, Angriff oder „totstellen“ – weshalb unser Gehirn viele Changeprojekte blockiert
Mitarbeiter melden sich krank; Spitzenkräfte kündigen und suchen das Weite. Fachleute haben für diese „Nebenwirkungen“ der Changeprojekte eine überraschende Erklärung: Das menschliche Gehirn kommt mit solch tiefgreifenden Veränderungen nicht zurecht. Es schaltet automatisch in den „Alarmzustand“. Die Mitarbeiter reagieren instinktiv: Flucht (krankmelden oder kündigen), Angriff (das Projekt aggressiv behindern) oder „sich totstellen“ (Dienst nach Vorschrift). Mit fünf Praxisstrategien bekommen Unternehmen diese ebenso unvermeidlichen wie gefährlichen Instinktreaktionen in den Griff.
Kurz vor dem Weihnachtsfest die knappe Nachricht vom Vorstand: Die Personalabteilung eines Großunternehmens wird „umgebaut“. Was die über 250 Mitarbeiter erwartet, wie die Aufgaben, Zuständigkeit, Abläufe und Verantwortlichkeiten zugeschnitten werden – darüber kein Wort. Nur die Ankündigung, dass da ein Veränderungsprojekt kommt. „Wir haben über ein halbes Jahr auf nähere Informationen gewartet“, berichtet eine Mitarbeiterin. Ein Nervenkrieg. Anfangs versuchten Mitarbeiter ihre Projekte zu retten. Dann blieb aktenweise Arbeit liegen; allein das Notwendige wurde erledigt. „Einige Kollegen waren wochenlang krank, Spitzenkräfte kündigten zornig“, sagt die Mitarbeiterin, „und viele andere trauten sich nicht einmal an Routineaufgaben heran, nur um keinen Fehler zu machen.“ Am Ende dauerte es eineinhalb Jahre, bis es in dieser Abteilung „rund lief“.
Mit Restrukturierungen passen sich Unternehmen der wechselnden Großwetterlage ihrer Märkte an. Veränderungsprojekte – sogenannte „Changeprojekte“ – sollen die Organisation schnell umbauen und profitabler machen. Häufig eine Rosskur mit erheblichen Nebenwirkungen. Während des organisatorischen Umbaus herrscht Stillstand. Die Produktivität lässt nach; manche Abteilungen finden erst nach ein oder zwei Jahren zu ihrer normalen Leistung zurück. Das Problem: Die Mitarbeiter nehmen den abrupten Umbruch als existenzbedrohend wahr. Er aktiviert über Wochen ein Stressprogramm, das zu Angst, Lethargie und Aggression führt.
„Stressverhalten ist im menschlichen Gehirn festgeschrieben“, erklärt Tina Hiller, Fachfrau für Changemanagement bei der Unternehmensberatung „next level consulting“. Sich bedroht fühlende Menschen reagieren mit einem von drei körperlich festgelegten Stress-Instinkten: Sie schalten auf Angriffsmodus, sie flüchten oder sie verharren still („sich totstellen“). Völlig normales Verhalten – aber reines Gift für die Produktivität, die Mitarbeitergesundheit, das soziale Klima, die Arbeitsqualität und die Loyalität der Mitarbeiter. „Mit diesen Instinktreaktionen gehen wir deshalb klug um“, berichtet Tina Hiller aus ihrer Beratungspraxis, „wir versuchen, dem Gehirn die Last der Angst zu nehmen und Mitarbeiter zu unterstützen, ihren Stress zu bewältigen.“ Sie beschreibt die fünf Eckpfeiler, mit denen ihre Changeprojekte gelingen.
1. Die Zahl der Changeprojekte reduzieren
Manche Unternehmen gleichen einer Dauerbaustelle. Ist die eine Restrukturierung abgeschlossen, folgt die nächste. Manche Mitarbeiter ziehen längst nicht mehr mit. Sie arbeiten wie gewohnt weiter; das nächste Changeprojekt steht ja ohnehin schon vor der Türe. Fachleute sprechen von „Veränderungsmüdigkeit“. Tina Hiller empfiehlt ein Drei-Punkte-Programm: Reduzieren Sie die Zahl der Changeprojekte. Arbeiten Sie die verbliebenen Vorhaben strategisch nach Priorität ab. Erklären Sie Ihrer Organisation die hinter den Programmen stehende Strategie – und zeigen Sie, wohin die Reise gehen soll.
2. Transparenz schaffen
Neben der Gesamtstrategie wollen sich Mitarbeiter auch über die konkret anstehenden Changeprojekte orientieren. Unternehmen sollten deshalb über die Veränderungen früh und möglichst vollständig informieren. „Ein solches Zielbild der Maßnahmen bietet den Mitarbeitern während des Umbaus wichtige Stützpfeiler“, erklärt Tina Hiller und warnt davor, dieses Bild weder zu allgemein noch zu detailliert zu formulieren. Beschreibt die Geschäftsführung ihr Ziel einerseits zu diffus, so fehlt Mitarbeitern der Rahmen und der Halt. Sind die Veränderungen andererseits zu „kleinteilig“ vordefiniert, dann schränkt dies den Gestaltungsspielraum der Mitarbeiter ein; die Mitarbeiter fühlen sich von der Gestaltung des Wandels ausgeschlossen. „In diesem Punkt sollten Geschäftsführung und Change-Projektleiter auf eine gute Balance achten“, sagt die Fachfrau.
3. Mit der Angst „arbeiten“
Fachleute unterscheiden bei Restrukturierung zwischen Projektmanagement und Changemanagement. Das Projektmanagement entwickelt die Veränderungen und setzt diese um. Dazu gehören beispielsweise ein neues Gerüst für Arbeitsabläufe oder ein neuer Strukturplan für die Organisation. Anders das Changemanagement. Es begleitet die Mitarbeiter bei dem Wandel: Mit welchen Maßnahmen kann das Unternehmen den Instinktreaktionen der Mitarbeiter begegnen? Wie kann es vorbeugen gegen Produktionsverlust, Personalfluktuation oder aggressiven Widerstand? Manche Fachleute trennen bewusst das Projektmanagement vom Changemanagement und treiben beides als jeweils eigenes Projekt voran. Soweit muss niemand gehen. Wichtig aber ist: Das Unternehmen sollte sich darüber im Klaren sein, dass gelingende Umorganisationen auf zwei Pfeilern ruhen – auf der fachgerechten Projektumsetzung und auf Hilfsangebote für Mitarbeiter, die Veränderungen für sich zu „managen“.
4. Mitarbeiter auf die Umstellungen vorbereiten
(Um-)Lernen kostet Kraft. „Diese Anstrengung ist beispielsweise Autofahrern bekannt, die sich vom europäischen Rechtsverkehr auf den britischen Linksverkehr umstellen müssen“, erläutert Tina Hiller. Deshalb brauchen Mitarbeiter Zeit und ein Programm, in dem sie neue Arbeitsweisen trainieren und Sicherheit gewinnen können. Veränderungsprofis schulen Mitarbeiter dabei nicht nur im Umgang etwa mit neuer Software und anderen Arbeitsmitteln. Sie spielen mit den Mitarbeitern auch komplette Arbeitsabläufe durch und üben das komplexe Zusammenspiel.
5. „Reflexionsräume“ geben
Das Training neuer Arbeitsroutinen allein reicht nicht aus, um Mitarbeiter erfolgreich an den Wandel heranzuführen. „Wir flankieren Changeprojekte durch zusätzliche Angebote“, erklärt Tina Hiller, „Mitarbeiter finden Gelegenheit, den Wandel persönlich zu bewältigen.“ Ein Beispiel: Unternehmen bieten ihren Mitarbeitern Gelegenheit zur persönlichen Reflexion. Die Mitarbeiter sprechen über ihre Situation und finden Antworten auf Fragen, die ihnen auf dem Herzen liegen: Was bedeutet die Versetzung an einen anderen Standort? Wie kann man mit Versagensängsten umgehen und wie mit dem Unbehagen darüber, den gewohnten Kollegenkreis zu verlassen? Wichtig ist, dass die Gesprächsrunden professionell moderiert werden. Die Angst der Mitarbeiter darf das Gespräch nicht blockieren; der Tenor sollte immer an Lösungen orientiert und in die Zukunft gerichtet sein. „Solche Gespräche können zu zweit bei einem Coaching, in kleinen Teams oder auch in Großgruppen geführt werden“, erklärt Tina Hiller, „durch solche Reflexionsräume kann man Mitarbeiter gut aus dem mentalen Alarmzustand herausholen und damit das gefährliche Stressverhalten unterbrechen.“