Laut aktueller Erhebungen bleiben pro Quartal rund 120.000 IT-Stellen unbesetzt. Diese gravierenden Kompetenzlücken versuchen Unternehmen seit einigen Jahren mit IT-Freelancern zu füllen. Bedingt durch die Effekte der demographischen Entwicklung müssen diese mittlerweile allerdings ein immer breiteres fachliches Spektrum bewältigen.
Externe IT-Fachkräfte gelten bereits seit längerem als wichtige Ressource für die Bewältigung der digitalen Transformation. Nun vergrößern interne Besetzungslücken nochmals ihre Einsatzbereiche.
Die veröffentlichten Zahlen offener IT-Posten kennen seit Jahren nur eine Richtung: nach oben. Der Branchenverband Bitkom kam zuletzt auf 96.000 Stellen, die branchenübergreifend im Jahr 2021 vakant waren. Der Personaldienstleister Hays errechnete in seinem Fachkräfteindex, dass im selben Jahr ebenfalls branchenunabhängig sogar stattliche 100.000 Positionen, für die sich keine Fachkräfte finden lassen. Konkret suchen die Unternehmen vor allem nach IT-Security Experten, IT-Architekten und Datenbank-Entwicklern. Stehen diese in Festanstellung auf absehbare Zeit nicht zur Verfügung, wenden sich die verzweifelten Einkaufs-, und IT-Etagen meist vertrauensvoll an ihre Projekt- und Vermittlungspartner, die sich um einen adäquaten Ersatz durch einen freiberuflichen IT-Experten kümmern sollen.
Zwar ist ihnen durchaus bewusst, dass diese externen Wissensarbeiter ihren Preis haben. Was aber in Anbetracht des Projektumfangs und dessen Bedeutung als das deutlich kleinere Übel angesehen wird. Denn einem hohen Stundensatz für einen projekterfahrenen Freiberufler steht die sofortige Einsatzbereitschaft und damit ein schneller Produktiveinsatz gegenüber. Darüber hinaus schätzen Auftraggeber die hohe Spezialisierung dieser Experten. „Je spezialisierter unsere Experten sind, desto genauer können wir die Projektanforderungen des Kunden adressieren,“ so Carlos Frischmuth, Managing Director beim Personalberater Hays. „Durch diese Fokussierung können wir genau die Knowhow-Tiefe bieten, die sie für ihre Projekte benötigen.“
Programmiersprachen, die niemand mehr spricht
Besonders hoch liegt die Latte bei der speziellen Kenntnis bestimmter Programmiersprachen. Das sagt zumindest die aktuelle Marktsegmentstudie des Marktforschers Lünendonk. Demnach wurden in 2021 am häufigsten Freiberufler mit sehr speziellen Programmierkenntnissen wie Java-, Python-, oder PHP-Fähigkeiten gesucht, denn bevor ein reibungsloser Workflow funktioniert, müssen in vielen Fachbereichen erst einmal zahlreiche Software-Anwendungen auf den neusten Stand gebracht werden. Was nicht selten vorkommt: wenn es um das Knowhow für ältere Programmiersprachen wie beispielsweise Cobol geht, weilt manch interner Programmierer bereits im wohlverdienten Ruhestand. Aber ohne Modernisierung geht es nicht, besonders wenn bestehende IT-Landschaften zu einer neuen Cloud-Architektur umgebaut werden sollen.
Aber auch Cyber-Security rückt mit zunehmender Raffinesse der Internetkriminellen immer stärker in den Fokus der Unternehmen. Laut Aussage von Lünendonk werden rund 79 Prozent der Anwenderunternehmen in naher Zukunft hier einen neuen strategischen Schwerpunkt setzen. „Die Vielzahl von Aufgaben zum Schutz vor der wachsenden Bedrohungslage rund um Cyber-Kriminalität und Cloud können Unternehmen nicht aus eigener Kraft bewältigen. Damit werden die Aufgabenfelder der IT-Freelancer größer. Einer der wichtigsten Bereiche ist die Prävention, insbesondere bei der Sicherheit bei Industrieanlagen (Industrie 4.0) und der Cloud,“ so Lena Singer, Junior Analystin bei Lünendonk.
Aufgabenschwerpunkte ändern sich im Projekt
Das spüren auch die IT-Freelancer selbst. Denn mit zunehmender Personalnot wächst ihr Aufgabenspektrum. Thomas Boscheck, ein erfahrener Berater für PC-Anwendungen, wurde in der Vergangenheit ausschließlich für Rechneranwendungen beauftragt. Heute sieht sein Arbeitsumfeld deutlich vielfältiger und kleinteiliger aus. „Nicht nur die Anwendungstiefe hat sich verändert, auch die Moderation zwischen den Bereichen fehlt.“ Damit meint er die Kommunikation und Verständigung über technische Neuerungen und Veränderungen zwischen unterschiedlichen Fachbereichen. “Genau genommen können viele Unternehmen aktuell gar nicht mehr definieren, was sie eigentlich brauchen,“ bringt es Ingke Jenning, Prozess- und SAP-Beraterin auf den Punkt.
„Ich werde anfangs für eine bestimmte Aufgabe geholt, und dann stellt sich im Laufe des Projektes heraus, dass ein Workflow fehlt.“ Auch sie stellt fest, dass IT-Freelancer sich im Projekteinsatz immer mehr vom Spezialisten zum Generalisten entwickeln, da es ohne die Moderation zwischen unterschiedlichen Abteilungen nicht mehr geht. „Es ärgert mich, wenn ich anfangs für das Beheben einer Fehlermeldung im SAP-System beauftragt werde, sich dann während des Projektes der Aufgabenschwerpunkt ändert, und ich die Kommunikation zwischen Fachbereich und IT übernehmen soll,” so Jenning.
Unternehmen fehlt intern das Wissen über die Zusammenhänge
Zwar sind IT-Freelancer grundsätzlich flexibel. Wenn es aber um neue Aufgabenschwerpunkte und damit auch andere Umsetzungszeiten und mehr Kosten geht, ist es ratsam, stets vor Projektbeginn die Aufgabenstellungen so konkret wie möglich zu umreißen. Aber genau da liegt das große Problem. Aufgrund von fehlendem internem Knowhow können die neuen Einsatzbereiche gar nicht exakt spezifiziert werden. IT-Freelancern bleibt damit häufig nichts anderes übrig als ihren erweiterten Einsatz neu zu definieren. Wie groß und undurchsichtig die Lücke zwischen internem Wissen und externem Bedarf ist, weiß auch der Cyber Security Spezialist Stefan Klatt. „Bei meinen Kunden fehlt es häufig am Verständnis für die Zusammenhänge zwischen Infrastruktur und Sicherheit sowie an der Bewertung der Folgen von Changes und Incidents.“
Seinen Aussagen zufolge können viele nicht adäquat auf Incidents reagieren, weil ihnen das Wissen über die Zusammenhänge von Hard – und Software fehlt. Antworten auf die Fragen“ Wie kann eine Applikation sicher in der Infrastruktur implementiert werden? Wie ist die Verbindung zwischen Datenbank mit den Services und Geräten betroffen, wenn es zu Systemausfällen kommt? Oder wo müssen redundante Services oder Dienste eingeführt werden? Laut Klatt reicht das interne Wissen in vielen Fällen nicht mehr aus, sobald die Aufgabenstellung komplexer wird. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung, sollten Unternehmen den Einsatz und das Aufgabenspektrum ihrer IT-Freelancer für künftige Projekte stärker unter die Lupe nehmen. Wichtige Fragen in diesem Kontext: Setzen sie ihre Externen ad-hoc ein, um kurzfristig Kompetenzlücken zu stopfen? Oder wird der Einsatz der IT-Freelancer bereits strategisch betrachtet und geplant, um Dauerbaustellen in der IT-Organisation langfristig in den Griff zu bekommen?