Vor Corona wurden Unternehmen regelmäßig durch den Fachkräftemangel in ihrer Entwicklung ausgebremst. Aktuell hoffen viele, dass sich das Fachkräfteangebot durch freigesetzte Mitarbeiter verbessert, sobald der ganze Spuk vorbei ist.
Dennoch gilt es gerade in dieser kritischen Situation einige Punkte zu beachten.
Erstens werden durch die staatlichen Instrumente wie Kurzarbeit wesentlich weniger Fachkräfte freigesetzt, als es die Schwere der aktuellen Krise intuitiv vermuten lässt. Durch die Rettungsmaßnahmen treffen Bewerber nur nach und nach auf den Arbeitsmarkt. Die Kurve flacht ab, der große Peak bleibt aus. In der ersten Phase werden die Bewerber branchenspezifisch freigesetzt. Das bringt dem Rest, außer bei Schnittstellenprofilen, leider nichts.
Zweitens: Gute Mitarbeiter bleiben weiterhin gefragt. Ihre alten Arbeitgeber halten sie bis zuletzt, dann absorbiert sie der Markt direkt. Die besten kommen gar nicht auf den Markt, sie erhalten über persönliche Kontakte lukrative Angebote – nach wie vor werden 2 von 3 Stellen unter der Hand vergeben.
Es wird also, drittens, weiterhin nur ein kurzes Zeitfenster geben, in dem Recruiter tatsächlich Zugriff auf gute Bewerber haben. Wenn überhaupt, denn man muss sich vor Augen führen, dass der vermeintliche Fachkräftemangel, den viele Unternehmen erleben, zum größten Teil hausgemacht ist.
Hausgemacht? Ja, hausgemacht!
Vordenker wie Martin Gaedt haben das schlüssig belegt. Die Ursachen für den subjektiv erlebten Fachkräftemangel liegen teilweise im Markt, aber überwiegend auch in der Art und Weise, wie Unternehmen ihre Prozesse aufsetzen und mit Bewerbern umgehen. Viel zu oft werden undifferenzierte Stellenanzeigen veröffentlicht, um möglichst viele Bewerber zu bewegen und sich aus diesen dann die besten raussuchen zu können. Und was passiert mit dem Rest? Zurückgewiesene Bewerber fühlen sich gekränkt und tendieren dazu, sich zukünftig nicht mehr bei Unternehmen vorzustellen, die sie früher einmal abgelehnt haben. Forciert wird das durch nachlässiges Recruiterverhalten, wenn beispielsweise der mittlere Stapel zunächst vertröstet und später, nachdem die Stelle besetzt wurde, vergessen wird. Auch 2021 berichten Bewerber, dass sie von Unternehmen außer einer Standardmail, die den Eingang der Unterlagen bestätigt, nie wieder etwas gehört haben. Einfacher kann sich ein Betrieb als Arbeitgeber nicht disqualifizieren. Und viele Unternehmen ernten gerade die Früchte ihrer früheren Recruiting-Saat. Das Paradoxe: Statt etwas zu ändern wird der individuell erlebte Fachkräftemangel beklagt. Das Schöne: Man ist damit nicht allein.
Zeitgemäße Paradigmen und ein neues Rollenverständnis im Recruiting
Das alte Paradigma lautete: „Je mehr Bewerbungen ich erhalte, desto besser. Ich suche mir dann schon den Richtigen raus!“ Die Folge? Undifferenzierte Stellenausschreibungen, die keinen ausschließen wollen. Aber kann es wirklich das Ziel sein, sich durch 90 % unpassende Bewerberprofile zu wühlen? Wäre es nicht besser, wenn der eine Bewerber vorstellig würde, den man auch aus 100 aussortiert hätte? Das ist natürlich übertrieben. Aber die Zielgruppe so zu definieren und anzusteuern, dass die geeignetsten 5-10 Bewerber sich melden, ist heute problemlos möglich. Der Vorteil? Beim nächsten Mal stehen die restlichen 90 % noch zur Verfügung und haben nicht das Interesse am Unternehmen verloren.
Übrigens ist der Fachkräftemangel nicht so bedrohlich, wie es auf den ersten Blick scheint. Wenn Google auf offene Stellen bis zu 6000 Bewerbungen bekommt, Bosch über 80, dann herrscht dort absoluter Fachkräfteüberfluss. Auch viele Start-Ups können sich in keinster Weise über den vermeintlichen Fachkräftemangel beschweren. Klar, als neue Marktakteure haben sie ja auch in der Vergangenheit keine Bewerber verprellt, die ihnen heute fehlen. Probleme hat eher der Mittelstand. Durch Bewerber, die sich nicht mehr alles gefallen lassen und nicht akzeptable Zustände auf Arbeitgeber-Bewertungs-Plattformen transparent machen.
Was es für professionelles Recruiting noch braucht
Wir wissen: Fehler im Recruiting lassen sich durch spätere Personalentwicklungs-Maßnahmen kaum kompensieren. In der Regel gilt: Wenn es nicht passt, dann passt es halt nicht. Dann zieht früher oder später eine Partei die Reißleine, in drei von vier Fällen ist das heutzutage übrigens der Mitarbeiter. Das Ergebnis: Jede vierte Einstellung scheitert im Schnitt und schlägt mit 15 bis 36 Monatsgehältern der zu besetzenden Stelle zu Buche, wie eine Kienbaum Studie belegt. Was tun, um sich das zu ersparen? Um passende Mitarbeiter zu rekrutieren, sind drei Dinge maßgeblich: Ich muss wissen, was ich will, ich muss schaffen, dass sich ein dazu passender Kandidat bei mir vorstellt, und ich muss ihn für mein Unternehmen gewinnen, also erkennen, dass er der richtige ist und verhindern, dass er irgendwo anders anheuert.
1. Die saubere Grundlage: Wissen, was man will!
Es klingt banal, aber zunächst muss ich einmal wissen, was wozu passen soll. Schon hier können Fehler passieren, durch die der Recruitingprozess zum Glücksspiel verkommt. Angefangen mit der unterlassenen Erhebung der „Critical Incidents“ für die zu besetzende Stelle. Die Folgen? Einstellungsverantwortliche, die nicht genau wissen, was sie suchen, erliegen einem oder mehreren von gut zwei Dutzend Recruiting-Fehlern. Besonders beliebt: Den Bewerber nach Sympathie auswählen, nach Ähnlichkeit zum Vorgesetzten oder dem früheren Stelleninhaber.
Was also tun? Im ersten Schritt sollten die erfolgskritischen Inhalte der Stelle identifiziert werden. Für Positionen, die regelmäßig zu besetzen sind, lohnt es sich, wenn sich HR, die Linie und ein bis zwei gute Mitarbeiter zusammensetzen und erheben, welche Anforderungen erfolgreich zu meistern sind. Anschließend wird dokumentiert, wie sich der Stelleninhaber optimal verhalten soll, welche Vorgehensweise als eher durchschnittlich angesehen wird, und welches Verhalten gar nicht geht. Die Wissenschaft belegt: Damit können selbst unerfahrene Interviewer eine professionelle Auswahl treffen. Die eignungsdiagnostische Forschung belegt, dass situative und vor allem biografische Fragen die höchste Validität haben, sprich tatsächlich aussagekräftige Ergebnisse erzielen.
2. Wie schaffe ich es, dass sich die passenden Bewerber bei mir vorstellen?
Post & Pray Recruiting allein, das brav eine Stelle veröffentlicht und betet, dass sich der richtige Bewerber ins Unternehmen verirrt, funktioniert heute nur noch in den seltensten Fällen. Fast jedes Unternehmen hat mittlerweile am eigenen Leib erfahren, wie leicht und schnell sich dadurch Geld verbrennen lässt. Also bleibt die Stelle erst einmal offen. Wenn der Bewerber also nicht zum Unternehmen kommt, muss das Unternehmen eben zum Bewerber. Mittlerweile gibt es zig innovative Recruiting-Methoden, -Techniken und -Tools, mit denen das gelingt. Wenn der eine oder andere davon noch nichts anwendet, liegt es nicht daran, dass sich die Welt nicht weitergedreht hätte, sondern daran, dass man einfach noch in seiner eigenen Recruiting-Welt lebt. Das Problem: Wirklich rekrutiert wird da, wo die Bewerber sind und nicht da, wo man sie am liebsten hätte.
3. Die richtigen Bewerber erkennen und vor allem nicht vergraulen!
Die Forschung belegt: Um den passenden Bewerber im Interview nicht zu übersehen, braucht es professionelle Prozesse und Recruitingskills. Und zwar bei allen, die am Einstellungsprozess beteiligt sind. Hier stechen die Führungskräfte hervor, deren Einfluss noch viel zu häufig übersehen wird. Den Richtigen zu erkennen ist nur eine Seite der Medaille: Was tun, um zu verhindern, dass passende Bewerber wieder gehen? Prinzipiell gilt zwar auch im Recruiting, dass man nichts überstürzen sollte. Dennoch muss das Recruiting-Eisen geschmiedet werden, solange es heiß ist. Dass man dann sauber prüfen muss, ob die Passung stimmt, ist kein Wettbewerbsnachteil. Im Gegenteil: Die Sozialpsychologie belegt, dass wir die Zugehörigkeit zu einer Gruppe umso mehr schätzen, je höher die Zugangshürden sind. Bewerber ziehen verständlicherweise jene Unternehmen vor, bei denen sie merken, dass diese genau wissen, was sie suchen und sich auf der Grundlage eines professionellen Auswahlprozesses entscheiden. Also gehen Sie ruhig über mindestens drei Runden und nutzen Sie auch die Probezeit voll aus.
Fazit: Auch während und nach Corona bleiben gute Bewerber gefragt. Um diese zu gewinnen, sollten professionelle Prozesse eingeführt, neue Methoden im Recruiting genutzt und das untere Management mit an Bord genommen werden.
Christian Bernhardt ist Dozent für nonverbale Kommunikation und Kommunikationspsychologie, www.bernhardt-trainings.com