„In 12 Monaten wird nahezu jeder Code von KI geschrieben.“ Mit dieser provokanten Prognose sorgte Dario Amodei, CEO des KI-Unternehmens Anthropic, kürzlich für Schlagzeilen. Aktuell sorgt ein neues Konzept in der Entwickler-Community für Diskussionen: das sogenannte „Vibe Coding“.
Doch was genau steckt dahinter – und welche Chancen und Risiken sind damit verbunden?
Was ist Vibe Coding?
Der Begriff „Vibe Coding“ geht auf den slowakischen Ex-Open-AI-Forscher Andrey Karpathy zurück. Er beschreibt – vereinfacht ausgedrückt – das Programmieren mit maximaler Unterstützung durch Künstliche Intelligenz. Dabei verzichtet der Mensch ganz bewusst auf grundlegende Architekur- und Technologieentscheidungen. Im Zentrum des Vibe-Codings steht das Ergebnis. Der Weg dorthin wird weitgehend der KI überlassen.
Der Prozess ist denkbar einfach: Zu Beginn beschreibt ein Mensch der KI, was programmiert werden soll und wie das Endergebnis idealerweise aussehen könnte. Daraufhin generiert die KI den entsprechenden Code. Entspricht das Resultat noch nicht den Vorstellungen, erhält die KI vom Menschen weitere Anweisungen – solange, bis das Ergebnis passt.
Vom LLM zum KI-Agenten
Doch nicht jeder, der KI einsetzt, wird automatisch zum Vibe Coder. Beim Vibe Coding ist es entscheidend, den gesamten Coding-Prozess an die KI auszulagern. Dabei helfen Agentensysteme wie Cursor, Windsurf oder V0, die aktuell auf den Markt gelangen. Anders als klassische LLMs, wie ChatGPT, führen sie nicht nur Dialoge mit dem Nutzer, sondern kombinieren Sprachmodelle mit gezielter Automatisierung.
KI-Agenten übernehmen Aufgaben wie das Schreiben von Code oder das Beheben von Compile-Fehlern weitgehend selbstständig – oft mit besseren Ergebnissen als bei der rein dialogbasierten Interaktion. Sie handeln autonom, treffen Entscheidungen und führen Arbeitsschritte eigenständig aus. Beim Vibe Coding wird also nur das Ziel definiert – den Rest erledigt die KI.
Welche Chancen bietet Vibe Coding?
Viele Entwickler erhoffen sich vom Vibe Coding einen deutlich beschleunigten Entwicklungsprozess. Wer Programmieren als die Übersetzung von Logik in maschinenlesbare Anweisungen versteht, erkennt schnell das Potenzial: KI kann dabei wirkungsvoll unterstützen – besonders Personen mit wenig technischem Hintergrundwissen. Mit vergleichsweise geringem Aufwand lassen sich funktionsfähige Ergebnisse erzielen, ohne stundenlang Fehlermeldungen zu analysieren oder sich durch Dokumentationen zu kämpfen.
Gerade in frühen Phasen – etwa bei der Entwicklung von Prototypen oder dem Testen erster Ideen – eignet sich Vibe Coding besonders gut. Dafür müssen dann nicht mehr einzelne Programmierer oder ganze Entwickler-Teams beansprucht werden. Dadurch kann der Entwicklungsprozess von Software deutlich beschleunigt werden. Darüber hinaus wird die Gefahr minimiert, dass Entwickler sich in Ideen verlaufen, die auf Dauer nicht das gewünschte Ergebnis liefern.
Besonders hilfreich ist die Methode bei einfachen Modulen, wiederkehrenden Aufgaben oder der Anpassung bestehender Lösungen an neue Anforderungen. Entwickler sparen Zeit – und müssen deutlich seltener auf Stack Overflow nach der passenden Antwort suchen.
Welche Risiken können durch Vibe Coding entstehen?
So vielversprechend Vibe Coding auch klingt – der Ansatz birgt auch viele Risiken. Diese lassen sich gut anhand aktueller Beispiele verdeutlichen. In der Internet-Community kursieren derzeit zahlreiche Beispiele von Games, die mithilfe von KI in kürzester Zeit zusammengebaut wurden. Sogar ganze SaaS-Produkte, die auch zahlende Kunden anzogen, wurden ausschließlich mit KI programmiert. Diese Beispiele zeigen eindrucksvoll, was technisch möglich ist – offenbaren aber auch die Schwächen.
Denn viele dieser Videospiele lassen qualitativ zu wünschen übrig. Sie funktionieren zwar technisch grundsätzlich, sind jedoch nicht mit den Ergebnissen menschlicher Programmierarbeit vergleichbar.
Besonders bei wachsender Komplexität stößt die KI an ihre Grenzen. Zwar könnten künftige Modelle auch anspruchsvollere Aufgaben meistern – aktuell zeigt sich jedoch, dass KI-gesteuerter Code schnell unübersichtlich wird und Fehlerquellen mit sich bringt.
Ein weiteres Problem liegt in der Sicherheit. Ob KI-generierter Code gängigen Sicherheitsstandards genügt, ist in vielen Fällen fraglich – gerade bei Unternehmenssoftware ist dieser Mangel höchst problematisch. Erste Tests und Vorfälle deuten darauf hin, dass hier erheblicher Nachbesserungsbedarf besteht.
Häufig besteht das Problem darin, dass die KI sehr viel Interpretationsspielraum besitzt. Im Kern wird die KI immer das nächste Stück Code mit der höchsten Wahrscheinlichkeit generieren. Dadurch wählt sie nicht immer den besten Weg, um zum Ziel zu kommen, sondern denjenigen, der als Erstes funktioniert. So nimmt die KI oft unnötige Umwege und unerwünschte Nebenwirkungen in Kauf. Aus der Erfahrung lässt sich sagen, dass KI-generierter Code deutlich schwerer wartbar ist als Code, der nach dem Vier-Augen-Prinzip kontrolliert wurde. Dadurch lassen sich im KI-Code schwieriger Änderungen vornehmen.
Ohne Entwickler geht es nicht
Gerade bei komplexeren Aufgaben stößt die KI schnell an ihre Grenzen – auch KI-Agenten können hier nur begrenzt weiterhelfen. Entwicklungsprozesse, die auf Vibe Coding setzen, kommen daher nicht ohne erfahrene Programmierer aus.
Ein Entwickler mit fundiertem Know-how erkennt oft auf den ersten Blick, wo die KI Fehler macht oder ineffiziente Lösungswege wählt. Zudem kann er sicherheitsrelevante Aspekte prüfen, die die KI ausgelassen hat, weil sie für das Funktionieren einer Software nicht entscheidend sind. Als stochastische Systeme können KI-Agenten viele Möglichkeiten in kurzer Zeit durchspielen und ausprobieren. Was sie nicht können: Probleme an der Wurzel greifen.
Kommt es zu einem Bug, probiert die KI so lange neue Code-Varianten aus, bis der Fehler scheinbar verschwindet. Das führt jedoch häufig zu Folgeproblemen und weiteren Bugs. Ein erfahrener Entwickler hingegen analysiert gezielt die Ursache – und behebt das Problem an der Quelle.
Mit KI lassen sich in kurzer Zeit funktionierende und teils kreative Ergebnisse erzielen. Doch bei größeren Anwendungen ist Vorsicht geboten: Jeder von der KI erzeugte Code muss sorgfältig geprüft und kritisch hinterfragt werden – nicht zuletzt, um langfristige Wartbarkeit, Sicherheit und Stabilität zu gewährleisten.
Vibe Coding: ein unaufhaltsamer Trend?
Noch ist Vibe Coding ein junges Phänomen – wohin die Entwicklung führt, lässt sich derzeit kaum vorhersagen. Fest steht jedoch: Künstliche Intelligenz wird in der Software-Entwicklung künftig eine immer wichtigere Rolle spielen. Ob sich Vibe Coding dabei als neuer Standard etabliert, bleibt abzuwarten.
Potenzial bietet der neue Trend etwa bei der Erstellung von Beispielanwendungen, die über reine Klick-Dummys hinausgehen und für Anwendertests genutzt werden können. Auch für die Generierung von Lösungen und spezifischer Code-Module kann Vibe Coding in Zukunft durchaus genutzt werden.
Entscheidend wird sein, ob sich damit in der Praxis gute Ergebnisse produzieren lassen oder es bei qualitativ minderwertigen Software-Produkten mit gravierenden Sicherheitslücken bleibt. Klar ist: Die Arbeit erfahrener Entwickler bleibt unverzichtbar. Ihre Fähigkeiten sind essenziell, um tragfähige, sichere und wartbare Anwendungen zu schaffen.
Dennoch dürfte sich ihre Rolle langfristig wandeln. Statt jede Codezeile selbst zu schreiben, werden Entwickler zunehmend zu Architekten und Moderatoren des Entwicklungsprozesses. Um KI-gestützte Systeme effektiv zu steuern, braucht es ein tiefes Verständnis für Technologie – und die Fähigkeit, präzise und strategische Anweisungen zu formulieren. Denn obwohl KI-Agenten rasant Fortschritte machen, sind wir noch weit davon entfernt, ihnen die vollständige Verantwortung für komplexe Softwareprojekte zu überlassen.