Die Automobilindustrie steckt mitten in der Transformation zur Hightech-Branche. Doch echter und vor allem kontinuierlicher Wandel kann nur gelingen, wenn Belegschaft wie Management gleichermaßen mitziehen. Warum das in den Köpfen beginnt und Unternehmen sich jetzt darauf konzentrieren müssen, Schwarmintelligenz zu fördern und zu nutzen.
Ein Plädoyer von Dr. Zarah de Luca Hellwig, Change Management Expertin bei Q_PERIOR.
Die Automobilindustrie durchlebt einen fundamentalen Wandel. Viele Konzerne sind auf dem besten Wege, sich vom Traditionsunternehmen zur Tech-Company weiterzuentwickeln. Zentrales Element dabei ist die Softwareentwicklung, sowohl hinsichtlich der Produktion als auch des Endproduktes: Autos, vor allem im Luxussegment, bringen immer mehr digitale Funktionen und Services mit, die Digitalisierung wird zu einem zentralen Element. Schon vor dem Autokauf wird die Ausstattung digital konfiguriert. Und im Fahrzeug selbst gehören Touch Displays, Sprachassistenten, Parkassistenzsysteme oder Systeme wie Android Auto und CarPlay, um die Funktionen von Smartphones mit dem Infotainmentsystem zu verbinden, ganz selbstverständlich zur User Experience dazu. Kurz gesagt: Software ist Trumpf. Sie hat sich zu einem relevanten Absatzkanal entwickelt und wirkt sich entsprechend umfassend auf die Strukturen von Produktentwicklung und Fertigung aus.
Mindset-Wandel oder Abschied von der Perfektion
Doch wie sieht es in den Köpfen der Belegschaft aus? Denn mit der Verschiebung in Richtung Softwareentwicklung geht auch die Verschiebung des Mindsets von Mitarbeitenden einher. War es früher üblich, Projekte von Anfang bis Ende durchzuplanen und sich bei der Umsetzung strikt an diesen einen Plan zu halten, setzen sich jetzt agile Herangehensweisen durch: Softwareentwicklung ist zyklisch aufgebaut, sie unterliegt permanenten iterativem Feedback und erfordert regelmäßig, Ideen auch in einem frühen Projektstadium anzupassen oder ganz zu verwerfen. Deshalb ist es ratsam, den Fokus nicht mehr nur auf Perfektion auszurichten, sondern auf konstantes Hinterfragen und Anpassen. Das bedeutet, auch Scheitern zuzulassen: Werden Ansätze, die in die falsche Richtung gehen, rechtzeitig korrigiert, können Dinge schneller und in besserer Qualität entwickelt werden – egal ob es sich um eine einzelne IT-Anwendung, ein Gadget im Auto oder ein komplexes Projekt handelt.
Von Keimzellen und Graswurzelbewegungen
Sich von traditionellen Arbeitsmethoden zu verabschieden, verlangt allen Beteiligten allerdings viel Flexibilität ab. Und dieses Umdenken im Kopf, neudeutsch: Mindset Shift, lässt sich nicht einfach verordnen oder erzwingen – weder von oben noch von unten. Vielmehr müssen Mitarbeitende aller Hierarchieebenen bereit sein, sich ernsthaft auf Veränderung einzulassen.
Doch wie kann das gelingen? Indem beispielsweise mehr Erfolgsgeschichten erzählt werden. Aus Projekten oder Initiativen, die aufzeigen, , warum es sich lohnt, Hindernisse zu überwinden und wieviel positive Energie durch einen innovativen Ansatz freigesetzt wird. . Nach und nach verlässt die Organisation dadurch ausgetretene Denkpfade und lernt, sich auf Neues einzulassen. Anders formuliert: Steter Tropfen höhlt den Stein. Und im besten Fall bilden sich dabei Keimzellen des Wandels, die als Vorbild und über Best Practices zeigen, wie gut neue Ideen und Herangehensweisen funktionieren. Das wiederum ermutigt andere, ihrem Beispiel zu folgen. Und so entsteht peu à peu eine Graswurzelbewegung, die die Macht hat, tradierte Handlungsmuster aufzubrechen. Wer also solche Entwicklungen zulässt, fördert Mitarbeiterbeteiligung im besten Sinne und nebenbei auch die eigene Attraktivität als Arbeitgeber – angesichts des zunehmenden Fachkräftemangels ein nicht zu unterschätzender Wettbewerbsvorteil.
Schwarmintelligenz oder warum demokratische Prozesse so wichtig sind
Mitarbeitenden Gestaltungsspielraum, Zeit und echtes Mitspracherecht zu geben, ist elementar für agiles, flexibles und modernes Arbeiten. Gleichzeitig muss das Topmanagement offen sein für Veränderungen, die von der Basis nach oben getragen werden. Ohne Einflussnahme von oben erzielt der Schwarm im Austausch auf Augenhöhe die für komplexe Organisation und Prozesse zumindest näherungsweise bestmöglichen Ergebnisse. Dies aus Gründen eines überkommenen Verständnisses von Führung nicht zuzulassen, kann sich in der heutigen permanent im Wandel und Krisenmodus befindlichen Business Welt kein Unternehmen mehr leisten. Einander trotz aller Unsicherheiten zu vertrauen, sich wirklich zuzuhören, in die gleichberechtigte Aushandlung von Kompromissen zu gehen– darauf kommt es an. Ganze Projektteams werden so dazu motiviert, das Beste aus sich herauszuholen.
Aktuelle Herausforderungen: Fachkräftemangel und Wissenstransfer
Hinzu kommt, dass der Fachkräftemangel auch vor der Automobilbranche nicht Halt macht: Der Bewerbermarkt ist hart umkämpft. Ein weltweit bekannter Name und selbst großartiges Employer Branding reichen heute nicht mehr aus, junge Toptalente anzuziehen. Automobilkonzerne müssen also alles daran setzen, die eigene Belegschaft zu halten und gleichzeitig attraktiv für Bewerber:innen von Y bis Z zu werden. Das gelingt mit flexiblen Strukturen, guten Onboarding-Prozessen im Recruiting und jeder Menge Raum und Möglichkeit zur Selbstentfaltung.
Parallel dazu stellt der voranschreitende Renteneintritt der Babyboomer Unternehmen vor zunehmende Herausforderungen. Denn mit dieser Gruppe Mitarbeitende geht auch jahrzehntelanges Fachwissen und Erfahrung in den Ruhestand. Ihr Wissen dauerhaft und gut abrufbar zu erhalten – es gewissermaßen der Schwarmintelligenz zuzuführen, muss ebenfalls zu einem zentralen Thema werden.
Investition in die Zukunft
Dabei sollte sichergestellt sein, dass die Beteiligung der Mitarbeitenden, offene Diskurse und agiles Arbeiten keine wohlklingenden Schlagworte bleiben. Sie sind eine wichtige Investition in die Zukunft und sollten besser heute als morgen umgesetzt werden. Spätestens die aktuellen Herausforderungen – von den Auswirkungen der Corona-Pandemie über den Krieg in der Ukraine und seinen Folgen für die Weltwirtschaft bis hin zur Klimakrise – zeigen sehr deutlich, wie wichtig es ist, resilient zu bleiben. Gutes Change Management hilft, die dringend erforderlichen Veränderungen anzuschieben und gleichzeitig die dafür nötige interne Akzeptanz zu schaffen. Unternehmen sind mehr denn je auf ihre klugen Köpfe angewiesen. Jetzt müssen sie alles daran setzen, diese weiter mitzunehmen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Change Management in kleinen Dosen gut funktioniert. Der Dominoeffekt kleinerer Erfolgsprojekte wird auf Dauer in vielen Organisationen große Wirkung entfalten. So können auch Konzerne zu stetig lernenden Organisationen werden und sich kontinuierlich weiterentwickeln. Die Instrumente hierfür heißen Raum für Entfaltung, Förderung von Schwarmwissen sowie divers besetzte Teams und Abteilungen, die sich gegenseitig befruchten – Inspiration und Vorbild statt von oben verordneter Rezepte. Mit der Summe der Ideen lässt sich Großes schaffen. Man muss es nur zulassen.