Transformationsstrategien: Think big, start small, act fast

Effizienzsteigerung, Qualitätsoptimierung, höhere Kundenorientierung, ein besserer ökologischer Fußabdruck, flexiblere Lieferketten, das Abfedern des Fachkräftemangels oder die Erschließung neuer Umsatzquellen: Die Digitalisierung bietet der Fertigungsindustrie ein Füllhorn an Potenzialen.

Mehr noch, die gesamte Wertschöpfungskette gerät in Bewegung. Die Art und Weise, wie Produkte entwickelt, produziert, monetarisiert und versendet werden, wie Menschen miteinander und mit neuen Technologien arbeiten, befindet sich in einem ebenso unaufhaltbaren wie tiefgreifenden Wandel – weit über Kostensenkungen durch Automatisierung hinaus. Wer nicht nur die sogenannten Low Hanging Fruits ernten will, muss sich Gedanken über zukunftsfähige Transformationsstrategien machen.

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Die deutsche Fertigungsindustrie braucht Pioniere

Den vielfältigen Chancen und bereits verfügbaren Technologien zum Trotz verhalten sich viele Entscheider vorsichtig abwartend und verpassen so die Gelegenheit, ihr Unternehmen fit zu machen für die Zukunft. Längst bremsen nicht mehr die technologischen Grenzen die Digitale Transformation, sondern die Zurückhaltung der Unternehmen. Die deutsche Fertigungsindustrie riskiert abgehängt zu werden von Nationen, die mehr Mut und ein höheres Umsetzungstempo vorlegen: Laut Bitkom Research sehen sich knapp zwei Drittel der deutschen Unternehmen im internationalen Vergleich als Nachzügler der Digitalisierung. Deutschland braucht dringend einen Mentalitätswandel, weg vom Perfektionismus hin zum Pragmatismus. „Done is better than perfect“, gerade weil es im komplexen Kontext der Digitalisierung nicht die eine richtige Lösung gibt.

Digitalisierungsstrategien zwischen Blueprint und Praxis

Viele Entscheider fühlen sich überfordert mit der Fülle an Möglichkeiten. Was bedeutet Industrie 4.0 für den eigenen Betrieb? Welche Digitalisierungsbausteine sind relevant? Was kann, was soll, was muss konkret verändert werden, in welcher Reihenfolge und in welchem Tempo? Wie detailliert und wie vorausschauend muss eine Transformationsstrategie heute schon sein? Welches Budget wird benötigt und wie lassen sich kostspielige Sackgassen vermeiden?

Noch gibt es – mit Ausnahme der Automobilindustrie – wenig inspirierende Beispiele und adaptierbare Erkenntnisse aus der Praxis. Zwar sind viele Prozesse bereits digitalisiert und automatisiert, aber noch zu wenig wirklich digital transformiert. Beispielsweise reicht es nicht aus, Maschinen mit Sensoren auszurüsten und Daten zu sammeln. Echte Transformation bedeutet, dass der digitalisierte Maschinenpark smart genutzt wird, um Prozesse zu verbessern, Kosten zu sparen, bessere Qualität zu produzieren, Kundenwünsche zu erfüllen und die immer knappere Manpower effizient einzusetzen sowie in der Königsklasse der Transformation neues Wachstum zu generieren.

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Hinzu kommt, dass „die Fertigungsindustrie“ keine homogene Branche ist. Je nach Unternehmensgröße, Sparte, Nische und Geschäftsmodell sind die Ausgangslage und die Ziele sehr unterschiedlich. Es gibt deshalb kein perfektes Copy-Paste-Konzept. Trotzdem lassen sich in erfolgreichen Transformationen drei Phasen identifizieren, die aufeinander aufbauen und schrittweise den digitalen Reifegrad erhöhen.

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Die Phasen der Digitalen Transformation

In Phase 1 werden technologische Schulden ab- und ein robuster „Digital Backbone“ als verlässliche Basis aufgebaut: Alle Basissysteme, wie beispielsweise SAP und Microsoft, werden integriert, Schnittstellen standardisiert und Datenflüsse definiert. Die IT-Landschaft wird – wo sinnvoll – Schritt für Schritt in die Cloud überführt und mit Konzepten für die Cybersicherheit gegen interne und externe Risiken abgesichert. Digitale Arbeitsplätze, vom Büro über die Produktion bis hin zum Lager, machen das Unternehmen fit für eine effiziente Kollaboration und für moderne Arbeitsmodelle.

In Phase 2 wird die Infrastruktur für die Optimierung der Kernprozesse genutzt: Physische Assets wie Maschinen, Werkstücke und Bauteile werden mittels Sensoren an eine interne Datenquelle angebunden. Digitale Zwillinge reichern die Sensordaten mit Daten aus Software-Systemen wie ERP, MES und PIM* zu virtuellen Echtzeit-Modellen an, die unter anderem Simulationen ermöglichen. Ziel ist es, Hebel für Verbesserungen der Produktivität zu identifizieren, beispielsweise durch Predictive Maintenance.

In Phase 3 denken Unternehmen über die Kernprozesse der Fertigung hinaus: Produktionsdaten werden mit internen Unternehmensbereichen wie dem Vertrieb vernetzt und beispielsweise für die Nachhaltigkeitstransformation genutzt. In der finalen Ausbaustufe der Digitalen Transformation liegt der Fokus schließlich auf der Monetarisierung der Daten und der Etablierung neuer Geschäftsmodelle, um neue Umsatzströme zu erschließen über die eigentliche Wertschöpfung hinaus – von der Entwicklung innovativer Services bis hin zur Zusammenarbeit mit externen Partnern in kollaborativen Daten-Ökosystemen.

Arvato Transformationsstrategien

Anwendungsszenarien: Ein Blick in die Praxis

Wo das einzelne Unternehmen startet und welche Maßnahmen priorisiert und kombiniert werden, ist hochindividuell. Wichtig ist die Skalierbarkeit der Pilotprojekte und eine technologische Infrastruktur, die Spielraum bietet für Visionen und Ideen, die vielleicht erst später in die Realität umgesetzt werden.

Praxisbeispiel #1:  Ein Maschinenbauunternehmen möchte die Wartung des Maschinenparks optimieren und setzt im ersten Schritt auf Condition Monitoring, also der kontinuierlichen Erfassung des Zustandes beispielweise einer Maschine. Mittels Sensoren am Werkzeughalter zerspanender Maschinen werden Schwingungen, Kräfte und Temperaturen direkt an der Wirkstelle erfasst und in Echtzeit an eine zentrale Datenplattform übertragen. Bei Ãœberschreitung definierter Toleranzen meldet das System, dass das Werkzeug ausgetauscht werden muss. Das nächste Level ist Predictive Maintenance: Intelligente Algorithmen erstellen präzise Diagnosen, wann mit dem nächsten Werkzeugwechsel zu rechnen ist und ermöglichen so eine produktionsfreundliche Wartungsplanung. In einer weiteren Ausbaustufe werden zusätzliche Sensoren nachgerüstet, um den Energieverbrauch zu messen und mittels Künstlicher Intelligenz zu optimieren.

Praxisbeispiel #2: Ein Fertigungsunternehmen entscheidet sich, digitale Arbeitsplätze einzuführen. Die primäre Intention ist es, die eingesetzten Softwareprodukte zu standardisieren, Lizenzkosten zu sparen und den Aufwand für Updates zu senken. Die Cloud als neue Infrastrukturbasis eröffnet dabei zahlreiche weitere Verbesserungsmöglichkeiten, die nach und nach umgesetzt werden: Für den Shopfloor erhalten die Mitarbeitenden mobile Endgeräte, um den Maschinenstatus zu überwachen und so Zeit für Kontrollgänge einzusparen. Durch den Aufbau einer zentralen Kollaborationsplattform werden Informationssilos aufgelöst, sowie das Managen von Dokumenten und der Austausch von Wissen gefördert.

Der einheitlich hohe Sicherheitsstandard für alle Arbeitsplätze vereinfacht Zertifizierungen und Audits. Auch der Wunsch vieler Mitarbeitenden nach hybriden Arbeitsmodellen lässt sich so in vielen Bereichen umsetzen, was mittelfristig sowohl die Zahl der Bewerberinnen und Bewerber als auch die Mitarbeitendenbindung erhöht. Die papierlosen Prozesse, der geringere Energieverbrauch durch Reduzierung der Bürofläche und CO2-Einsparungen aufgrund sinkender Pendelstrecken zahlen außerdem auf den ökologischen Fußabdruck ein.

Praxisbeispiel #3: Ein Reifenhersteller startet in der Produktentwicklung ein Pilotprojekt für den Digitalen Zwilling: Mit Hilfe des Digitalen Zwillings lassen sich Simulationen für eine Vielzahl an Profilvarianten, Materialmischungen und Wetterbedingungen durchführen, ohne physische Prototypen zu bauen und in realen Testumgebungen zu erproben. Das spart Geld, verkürzt die Time-to-Market und optimiert die Produktqualität. Der Fertigungsbetrieb weitet das Pilotprojekt aus und stattet jeden Reifen mit Sensoren aus und sammelt verschiedene Nutzungsparameter. Nachdem die neue Reifenserie auf den Markt gebracht wurde, stellt das QS-Team (Qualitätssicherung) bei Auswertung der Sensordaten fest, dass bei einer Produktionscharge der Abrieb deutlich erhöht ist.

Dank des Digitalen Zwillings lassen sich die von einer fehlerhaften Materiallieferung betroffenen Reifen lokalisieren und gezielt zurückrufen. In einem weiteren Transformationsschritt könnte der Reifenhersteller in den Datenhandel einsteigen und Herstellern digitaler Assistenzsysteme innerhalb eines Ökosystems Realdaten anbieten, welche Kräfte bei Lenkmanövern auf die Reifen wirken und wie sich die Reifen in kritischen Situationen verhalten.

Fazit: Vom Kleinen zum Großen, aber schnell

Die Kunst erfolgreicher Transformationsstrategien ist es, motivierende schnelle Erfolge mit visionärem Weitblick zu vereinen. Klein zu starten, aber von Beginn an groß zu denken – und schnell zu handeln. Denn die Digitalisierung wird die Fertigungsindustrie revolutionieren. Heute entscheidet sich, wer morgen zu den Gewinnern des Wandels zählen wird.

* ERP = Enterprise-Resource-Planning | MES = Manufacturing Execution System | PIM = Product Information Management

Oliver

Becker

Vice President IMC

Arvato Systems

Dr. Oliver Becker ist Vice Preisident IMC bei Arvato Systems. In dieser Funktion verantwortet er die Betreuung von Kunden aus der Fertigungsindustrie.
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