Klassische Rekrutierungswege erweisen sich für IT-Positionen immer häufiger als Sackgasse. In Zeiten eines leergefegten IT-Fachkräftemarktes braucht es den Mut, neue und oft unbekannte Wege zur Entdeckung und Gewinnung von IT-Fachkräften einzuschlagen.
Bewerberinnen und Bewerber, die absagen, da ein größeres Unternehmen mit fast 50 Prozent mehr Gehalt und komplett Remote Work bessere Konditionen bietet. Auf bis zu drei Viertel der ausgeschriebenen offenen Stellen gehen überhaupt keine geeigneten Bewerbungen ein. Von diesen und ähnlichen Erfahrungen berichten Unternehmen, die auf der Suche nach Cybersecurity-Experten, Data Scientists & Co. sind. Auch mehr Recruiter, größere Employer Branding Budgets und mehr Auftritte auf Jobmessen ändern daran nichts. Klassische Rekrutierungsstrategien greifen nicht mehr.
Aufgrund der Digitalisierung 2.0, die keine Branche mehr auslässt, wächst der Bedarf noch schneller als im vergangenen Jahrzehnt. Das Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung (Kofa) des Instituts der deutschen Wirtschaft errechnete, dass im Jahr 2022 für neun von zehn offene Positionen, für die Expertinnen und Experten mit einem Hochschulabschluss gesucht wurden, entsprechend qualifizierte Arbeitslose fehlten. Daher werden Unternehmen mutige, neue und oft ungewohnte Wege zur Entdeckung und Gewinnung von IT-Fachkräften gehen müssen. Gerade im Mittelstand.
Was könnten also die neuen Instrumente in der Bewältigung des IT-Fachkräftemangels sein? Wir sehen drei Handlungsstränge, die miteinander vernetzt werden sollten.
1. Denkschablonen aufbrechen und betriebliche Weiterbildung neu aufsetzen
In den vergangenen Jahrzehnten wurde Weiterbildung im Unternehmen fast ausschließlich mit Blick auf den jetzigen Arbeitsplatz des Mitarbeitenden und Orientierung an der Erstqualifikation betrieben. In vielen Unternehmen werden von Führungskräften nur diejenigen Kompetenzen wahrgenommen und in Datenbanken erfasst, die die Beschäftigten für ihre heutige Aufgabe benötigen. In Zeiten von Fachkräftemangel gilt es, genau diese Denkschablone aufzubrechen.
Warum sollte sich die langjährige Einkäuferin, die seit vielen Jahren sehr geübt mit dem ERP-System arbeitet, nicht für ein Reskilling zur Daten-Analystin eignen? Ihre jetzige Stelle wird sich mit der nächsten ERP-Generation ohnehin radikal verändern. Daher ist JETZT der perfekte Zeitpunkt, eine größere Umschulungsmaßnahme auf den Weg zu bringen. Das erfordert nicht nur die Auswahl eines Weiterbildungspartners, sondern zuallererst vertrauensvolle Gespräche mit der Führungskraft und HR. Welche Arbeitszeit-Regelungen braucht die Kollegin? Wie kann die Angst vor einem Scheitern in der zweijährigen berufsbegleitenden Maßnahme genommen werden? Wie kann ein externer Coach mit einer neutralen Perspektivenberatung die intrinsische Motivation auf der langen Lernstrecke verstärken?
2. Hybride Tandems entwickeln und in der betrieblichen Praxis etablieren
Selbst wenn die internen Mitarbeitenden-Ressourcen für die IT-Weiterbildung optimal ausgeschöpft werden, wird das allein nicht den Fachkräftemangel lösen. Gerade in hochspezialisierten Bereichen wie Künstliche Intelligenz wird es ohne jüngere Fachkräfte mit einer Informatik-Ausbildung nicht funktionieren. IT-Offshoring nach Indien kennen wir bereits seit den 1980er Jahren. Die Auslagerung von IT-Aufgaben per Remote Work ist schon seit den frühen 2000er Jahren eingeübte Praxis. Da sich heute immer mehr die Grenzen zwischen den Fachbereichen und der IT-Abteilung auflösen, benötigt es neue Formen der Zusammenarbeit. So könnten sich gerade in Zeiten des demographischen Wandels feste virtuelle Tandems mit einem älteren Fachkollegen in Deutschland vor Ort und einem jüngeren indischen IT-Spezialisten als sinnvolles und pragmatisches Instrument profilieren.
Voraussetzungen dafür sind allerdings ein klares Commitment des Managements, neue Führungsstrukturen, interkulturelle und englischsprachige Trainings für die deutschen Kollegen und größere IT-Investitionen (Cloud, Cybersecurity etc.). Das verändert die Unternehmenskultur. Auch die Mitbestimmung muss hier von Anfang an eingebunden werden, um die Ängste vor einer mittelfristigen Verlagerung von Arbeitsplätzen vor Ort in Deutschland abzubauen.
3. Das Unternehmen radikal neu denken und grenzenlos aufstellen
Damit die Digitalisierung 2.0 ihre Veränderungskraft im Unternehmen entfalten kann, bedarf es völlig neuer Strukturen jenseits des klassischen „Command & Control“ des Industriezeitalters. In den letzten Jahrzehnten wurden verschiedene Modelle entwickelt, wie „Beyond Budgeting“, „Beta-Unternehmen“ (Zellstrukturdesign) und „Ökosysteme“ im Westen oder selbststeuernde Partner-Netzwerke von Mikrounternehmen („Rendaheyi“-Modell) in Ostasien. Vergleicht man diese Konzepte mit der heutigen Realität in den meisten Unternehmen, erscheint dieser Übergang völlig irreal zu sein.
Die neuen Technologien wie z. B. Künstliche Intelligenz, Virtual und Augmented Reality werden aber durch ihre Vernetzung enorme Veränderungsimpulse auslösen, die von den traditionellen Unternehmensstrukturen nicht mehr integriert werden können. Organisationen, die sich hier rechtzeitig auf den Weg machen, werden zugleich auch für IT-Spezialisten attraktive Arbeitgeber sein. So werden sie hier ihre Arbeit nicht als digitale Oberflächenbehandlung betrachten müssen, sondern als wertschöpfende Zukunftsreise erleben.