Europa hat ein Produktivitätsproblem. Die EZB schätzt, dass die Arbeitsproduktivität in der EU und in den großen Volkswirtschaften seit Jahrzehnten langsam zurückgeht und bis heute weiter sinkt.
Die Produktivität ist ein wichtiges Maß für den Lebensstandard in einem Land: Denn je mehr ein Unternehmen produzieren kann, desto mehr kann es seinen Mitarbeitenden zahlen, die mehr ausgeben und Steuern zahlen, was letztlich die Wirtschaft ankurbelt. Produktivitätsfortschritte sind folglich langfristig der entscheidende Faktor für die Zunahme des materiellen Wohlstands einer Gesellschaft.
Der diesjährige Docusign Digital Maturity Report zeigt jedoch, dass die Unternehmen nicht die entscheidenden Schritte unternehmen, um die Produktivität ihrer Mitarbeitenden zu steigern. Denn die notwendigen Investitionen, um das Arbeitsumfeld zu verbessern, werden nicht getätigt. Das Problem ist so groß, dass 27 Prozent der Befragten erwägen, ihren Arbeitsplatz zu kündigen, weil sie von den derzeitigen Systemen, Prozessen und Arbeitsweisen frustriert sind.
Der digitale Reifegrad eines Unternehmens, das heißt die Fähigkeit, durch digitale Instrumente und Prozesse einen Mehrwert zu schaffen, kann sich jedoch erheblich auf die Arbeitszufriedenheit der Arbeitnehmer auswirken. Mehr als die Hälfte der Beschäftigten in Unternehmen mit einem niedrigen digitalen Reifegrad gaben an, dass sie in den nächsten zwölf Monaten eine Kündigung in Erwägung ziehen würden, verglichen mit 44 Prozent in Unternehmen mit einem sehr hohen digitalen Reifegrad.
Die Unternehmen müssen sich daher drei zentralen Herausforderungen stellen: der Überwindung der Probleme im Zusammenhang mit veralteten Technologien am Arbeitsplatz, der schnellstmöglichen Digitalisierung ihrer Prozesse und der Umsetzung von Maßnahmen zur Überwindung der immer größer werdenden Produktivitätslücke.
Alte Technologien als Herausforderung
Obwohl viele Unternehmen behaupten, dass sie sich in letzter Zeit digitalisiert haben und sich für die kommenden Herausforderungen gut gerüstet fühlen, ist die Stimmung unter den Arbeitnehmern nicht gut. Wenn man bedenkt, dass 23 Prozent derjenigen, die erwägen, ihren Arbeitsplatz im nächsten Jahr zu kündigen, dies tun würden, weil sie in einem Unternehmen arbeiten möchten, das sich stärker der Digitalisierung verschrieben hat, wird deutlich, dass zwischen den Führungskräften und ihren Mitarbeitern Uneinigkeit darüber besteht, was ein Unternehmen technologisch fortschrittlich macht.
Ein Teil des Problems könnte darin bestehen, dass zu viele Mitarbeiter mit Aufgaben von geringer Bedeutung beschäftigt sind. Im Durchschnitt werden zwölf Stunden pro Person und Woche mit nicht wertschöpfenden, manuellen und sich wiederholenden Tätigkeiten verbracht. Da sich über 40 Prozent der Befragten mehr Zeit für strategische und höherwertige Aufgaben wünscht, bei denen sie glänzen können, ist es nicht verwunderlich, dass so viele eine Kündigung in Betracht ziehen.
Wirkungskraft digitaler Transformation
Digitale Reife kann über Erfolg oder Misserfolg eines Unternehmens entscheiden. Die Entwicklung zu einem digital reiferen Unternehmen muss für jedes Unternehmen im Mittelpunkt stehen. Das ist wichtig, denn die Studie hat gezeigt, dass sich eine klare Mehrheit (80 Prozent) der Befragten für technisch versiert hält – aber nur 13 Prozent gaben an, dass die technische Infrastruktur ihres Unternehmens ihren Erwartungen sehr entspricht. Wenn jedoch durch Investitionen in digitale Lösungen mehr „Arbeit“ automatisiert werden könnte, könnten die Mitarbeiter diese zwölf Stunden Zeit pro Woche zurückgewinnen, was zu einer höheren Mitarbeiterzufriedenheit beitragen würde.
Den Mitarbeitern Zeit für die Erledigung strategischer Aufgaben von hoher Qualität zu geben, die sich direkt und sinnvoll auf die Unternehmensziele auswirken, ist sowohl für die Arbeitsmoral als auch für das Endergebnis wichtig. Weniger als die Hälfte der Befragten gab an, dass dies der Fall ist, und nicht weniger als vier Stunden pro Person und Woche werden beispielsweise für die manuelle Eingabe von Informationen verschwendet, die automatisiert werden könnten.
Diese Frustration über veraltete Technologie und die auch damit zusammenhängende Zeitverschwendung könnte die 27 Prozent der Befragten, die an Kündigung denken, in die Arme der digital versierten Konkurrenz treiben. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass weniger benutzerfreundliche Lösungen den Weg zu Produktivität und Wachstum unnötig erschweren.
Dieser Mangel an digitaler Reife könnte schwerwiegende Folgen für die Unternehmen haben. 23 Prozent der befragten Führungskräfte würden gerne in digital fortschrittlichen Unternehmen arbeiten, während der Rest mit einem “Brain Drain” zu kämpfen hat, der die Produktivität weiter sinken lässt.
Was können Unternehmen tun? Grundsätzlich gilt natürlich: Es ist möglich, digital reifer und damit wettbewerbsfähiger zu werden. Der erste Schritt besteht darin, eine digitale Strategie zu definieren und umzusetzen, die alle Aspekte des Unternehmens abdeckt und Ineffizienzen wie unnötige manuelle Prozesse beseitigt. Das ist mühsam, aber es zahlt sich aus.
Die Produktivitätslücke schließen
Unternehmensleiter wissen bereits, dass sie modernere Technologien einsetzen müssen, um ihre Produktivität zu steigern. Der Digital Maturity Report zeigt, dass 77 Prozent der Unternehmen ihre Investitionen in digitale Werkzeuge erhöhen, was natürlich ein positives Zeichen ist. Allerdings gehen nur 44 % davon aus, dass ihre Investitionen in die digitale Modernisierung oder Transformation im nächsten Jahr steigen werden.
Unternehmen müssen sicherstellen, dass sie die geschäftlichen Anforderungen und die Erfahrungen ihrer Mitarbeiter mit den von ihnen eingesetzten Technologien und Prozessen in Einklang bringen, um für alle Beteiligten das bestmögliche Ergebnis zu erzielen. So ist es zum Beispiel kontraproduktiv, Investitionen aufzuschieben und damit eine höhere Personalfluktuation zu riskieren.
Angesichts der Tatsache, dass 52 Prozent der Unternehmen unter einem Mangel an technologischen Kenntnissen leiden, gibt es keine Entschuldigung für ein zögerliches Vorgehen. Es ist schwer vorstellbar, wie ein Unternehmen die besten Talente an sich binden kann, wenn es die digitalen Erwartungen seiner Mitarbeiter nicht erfüllt.
Unternehmen, die ihre Transformationspläne in Angriff nehmen und ihre Mitarbeiter dabei unterstützen, digitale Technologien besser zu nutzen, um mehr Zeit für strategisch wichtigere Aufgaben zu haben, können mit einer potenziellen Produktivitätssteigerung von fast 25 Prozent pro Arbeitswoche rechnen. Dadurch würde sich der Beitrag zum BIP pro Arbeitnehmer und Jahr allein in Deutschland um über 46.000 Euro erhöhen*.
Generative Künstliche Intelligenz könnte richtig eingesetzt ein Beispiel für einen positiven Wandel für Arbeitnehmer sein. 23 Prozent der Unternehmen nutzen bereits Technologien wie ChatGPT, um ihre Effizienz zu steigern.
Was bleibt: Praktisch alle Unternehmen stehen heute unter Druck. Wenn sie jedoch Maßnahmen ergreifen, um digital reifer zu werden, ineffiziente Prozesse und Zeitverschwendung zu reduzieren und ihre Mitarbeiter in die Lage zu versetzen, sich auf wertvollere Aufgaben zu konzentrieren, haben sie die Chance, wieder zu wachsen. Sie könnten sogar beginnen, neue Talente von der Konkurrenz abzuwerben.
* Berechnet auf der Grundlage von 12 Stunden geringwertiger, repetitiver Arbeiten pro Arbeitnehmer und Woche, multipliziert mit der Produktivität Deutschlands, wie sie im OECD-Bericht über die Arbeitsproduktivität 2021 geschätzt wird (80,6 $ bzw. 74,4 Euro pro Arbeitsstunde) und mit 52 multipliziert, um den Jahresdurchschnitt zu berechnen, mit einem Umrechnungskurs von 1:0,93.