Covid-19 hinterlässt in allen Bereichen von Gesellschaft und Wirtschaft tiefe Spuren. An vielen Stellen hat die Corona-Krise die Verwundbarkeit von Unternehmen und Organisationen aufgedeckt. Zugleich birgt sie – wie jede Krise – auch eine Chance: Innovationen voranzutreiben, Prozesse zu automatisieren und neue Formen des Arbeitens und der Kommunikation zu etablieren.
Viele Unternehmen haben sich bemüht, schnell zu reagieren, mit Homeoffice-Konzepten und Webconferencing. Dennoch gibt es in etlichen Industriezweigen – auch in der eher konservativ geprägten Finanzbranche – nach wie vor einen Innovationsstau. Für viele Finanzinstitute haben unflexible Legacy-Systeme die Krisenresilienz beeinträchtigt. Die Corona-Krise hat die Überwindung des Innovationsstaus auf der Agenda nun aber weit nach oben gerückt. Auch wenn Covid-19 selbst kein Enabler für Innovation und Digitalisierung ist, wirkt die Pandemie doch als Beschleuniger bestehender Trends. Allein was die Ansprüche von Endkunden an digitale Kommunikation betrifft, hat uns Corona wohl fünf bis sieben Jahre in die Zukunft katapultiert.
Das Notebook auf dem Küchentisch
In etlichen Branchen, auch in der Finanzindustrie, waren Unternehmen auf den weitgehenden Lockdown mehr schlecht als recht vorbereitet. Dennoch gelang es oft relativ schnell, Heimarbeitsplätze einzurichten, inklusive der erforderlichen Infrastruktur, der Notebooks, der Netzwerkbandbreiten und des Remotezugriffs per VPN-Tunnel. So hat die Krise allen gezeigt, dass ein Homeoffice-Ansatz prinzipiell funktioniert. Dadurch hat das arbeitsplatzunabhängige Arbeiten nachhaltig an Bedeutung gewonnen. Es ist durchaus vorstellbar, dass 30 Prozent aller Knowledge Worker die neuen Homeoffice-Möglichkeiten permanent in Anspruch nehmen werden. Dabei ist es für Teamleiter wichtig, die direkte Kommunikation aufrechtzuerhalten, etwa durch regelmäßige, virtuelle Stand-up-Meetings. Auch im Homeoffice wollen Mitarbeiter in den Informationsfluss eingebunden bleiben.
Papiergebundene Prozesse überwinden
Allerdings verlief längst nicht bei allen Unternehmen der Umzug ins Homeoffice reibungslos – wenn er überhaupt möglich war. Oft hatte dies damit zu tun, dass relevante Funktionen überhaupt nur an stationären Arbeitsplätzen verfügbar waren. So führten viele Banken auch einen Schichtbetrieb mit reduzierter Besetzung und größeren physischen Abständen ein – um etwa in ihren Händlerräumen die Infektionsrisken zu minimieren. Zudem sind in vielen Fällen Prozesse noch teilweise papiergebunden, beispielsweise Neukundenanträge oder Transfers. Für etliche Unternehmen brauchte es auch eine gewisse Umrüstzeit, bis sie etwa in ihrem Posteingang soweit waren, dass eingehende Schriftstücke gescannt werden konnten. Die Krise hat die Schwachstellen in bislang unvollständig digitalisierten Prozessen schonungslos aufgedeckt und die Vorteile einer durchgängigen Automatisierung deutlich vor Augen geführt.
Durch Outsourcing zur Resilienz
Eine weitere zentrale Lehre, die Banken – und Unternehmen ganz allgemein – aus der Krise gezogen haben, ist, dass es lohnt, die Konzepte der Automatisierung und des Outsourcings zusammenzudenken. Banken haben gesehen, dass ihre komplexen Legacy-Systeme einer effektiven Desaster Recovery ebenso im Weg stehen wie einer effizienten Automatisierung. Je stärker ein Finanzinstitut aber seine Backoffice-Prozesse standardisiert und automatisiert, desto größer seine Resilienz und seine Effizienz. Durchgängig automatisierte Prozesse sorgen für eine hohe Datenqualität und -konsistenz, sie garantieren eine hohe Compliance gegenüber regulatorischen Vorgaben, und sie gestatten Straight-Through-Processing-Raten von über 98 Prozent – die Notwendigkeit manueller Eingriffe im Backoffice reduziert sich auf ein Minimum. Die Corona-Krise hat gezeigt, dass standardisierte, automatisierte und outgesourcte Prozesse die Anfälligkeit eines Unternehmens drastisch verringern. Konzepte wie SaaS und BPaaS reduzieren für Finanzinstitute aber nicht nur etwaige Herausforderungen im Bereich Business Continuity, sie erlauben es ihnen dauerhaft, sich viel stärker auf ihre eigentlichen, wertschöpfenden Kompetenzen zu konzentrieren. Covid-19 hat dafür gesorgt, dass Banken entsprechende Sourcing-Strategien für ihre Infrastruktur und die dazugehörigen Investitionsvorhaben heute viel höher priorisieren.
Das mobile Kundenerlebnis bleibt
Auch für die Kunden selbst hat sich sehr viel verändert. Die Art und Weise, wie sie mit Unternehmen interagieren, wird nach der Pandemie nicht wieder so sein wie zuvor. Kunden, die über Monate nicht in ihre Bankfiliale gehen konnten, waren gezwungen, die Möglichkeiten von Onlinebanking oder Onlinetrading zu nutzen. Für das beratungsintensive Geschäft der Kredit- und Anlageberatung haben Finanzinstitute ebenfalls schnell neue Wege gefunden – etwa die improvisierte Videoberatung. Und eine Schweizer Kantonalbank hat innerhalb kurzer Zeit einen Supportmarktplatz für Kleinunternehmen aus der Taufe gehoben. Viele dieser kurzfristig geschaffenen Möglichkeiten mögen den Charakter von Notlösungen haben, sie sind längst nicht perfekt. Und auch der derzeitige Funktionsumfang vieler Banking-Apps kann Kunden noch nicht wirklich begeistern. Aber was bei Kunden nach ihren Erfahrungen in der Krisenzeit haften bleibt, ist, dass es prinzipiell geht. Dass es virtuelle Kanäle und digitale Frontends gibt, auf denen sie mit ihrem Dienstleister auch mobil kommunizieren können. Hinter diese Erkenntnis gibt es kein Zurück mehr. Auf der strategischen Agenda von Banken steht darum neben der Automatisierung ihrer Prozesse auch der beschleunigte Ausbau ihrer digitalen Frontends und virtueller Beratungsumgebungen. Für die mobile Customer Experience werden auch leistungsfähige Apps eine große Rolle spielen. Zumal manche Prognosen davon ausgehen, dass 2025 rund drei Viertel aller Kunden das Internet nur noch per Smartphone nutzen.
Millennials sind längst digitalisiert
Ein weiterer Treiber für die Digitalisierung der Frontends sind neue Kundengruppen. So steht das globale Vermögensverwaltungsgeschäft vor einem gewaltigen Generationswechsel: Viele große Portfolios werden demnächst von den Babyboomern auf die Millennials übertragen. Wenn eine Bank aber deren Ansprüchen genügen will, wird dies eine konsequente Digitalisierung erfordern. Die nachwachsenden Kunden sind internetaffin und always-on. Sie wollen in Echtzeit agieren können, und im Zweifelsfall erwarten sie eine Omnichannel-Beratung. Sie entscheiden, ob sie lieber per WhatsApp, Line oder WeChat mit ihren Beratern sprechen. Banken, Vermögensberater und im Grunde alle Dienstleister sind darum gezwungen, in Zukunft die Zugangsbarrieren für Kunden massiv zu reduzieren. In diesem Kontext ist auch von der „Demokratisierung des Wealth Managements“ die Rede. Denn mit der Digitalisierung wird für Vermögensberater auch der bislang wenig rentable Retailmarkt attraktiv. Datenanalyse-, KI- und Machine Learning-Technologien gestatten auch für kleinere Anleger eine Hyperpersonalisierung: Ein Robo Advisor kann dann auf individuelle Kundenbedürfnisse eingehen, ohne den Aufwand einer persönlichen Beratung.
Der Trend zum Open Banking
Automatisierung ist das A und O für den zukünftigen Erfolg im Retailmarkt, aber auch das Corporate Banking ist bereits stark automatisiert. Hier gab es bereits vor Corona einen wichtigen Treiber: die zweite Zahlungsdiensterichtlinie der EU (PSD2). Sie hat die Ära des Open Bankings eingeläutet. PSD2 verpflichtet Finanzinstitute, ihre digitalen Infrastrukturen und Prozesse so anzupassen, dass Drittunternehmen auf freigegebene Kundendaten zugreifen, personalisierte Dienstleistungen anbieten und dadurch Teil des finanziellen Ökosystems des Kunden werden können. Gerade Unternehmenskunden profitieren bereits davon: Sie können nun Rechnungen digitalisieren und sie direkt über die PSD2-REST-Schnittstelle an ihre Bank übermitteln. So entstehen für Unternehmen auch neue Möglichkeiten im Liquiditätsmanagement.
Neue Ökosysteme
Das Ökosystem-Konzept hat in der Finanzbranche zwei Dimensionen. Zum einen können Kunden sich ihr finanzielles Ökosystem selbst bedarfsgerecht zusammenstellen. Zum anderen vollziehen sich aber auch bankseitig technologische Innovationen immer mehr in der Community, in einem Ökosystem, das um eine gemeinsame Plattform herum entsteht. Hier finden etablierte Finanzinstitute und Fintechs zusammen und beschleunigen durch Co-Innovation-Ansätze die Adoption innovativer Technologien und Lösungen. Vor dem Hintergrund von Open Banking und Ökosystemen gibt es für Banken zwei Entwicklungslinien: Einerseits treten sie mitunter stärker in den Hintergrund und werden zum Plattformbetreiber – Stichwort „Invisible Banking“ –, andererseits können sie sich entscheiden, das Dienstleistungsangebot unter ihrem eigenen Branding deutlich zu vertiefen.
Proof of Concept
Die Corona-Pandemie hat in vielen Bereichen gezeigt, warum eine konsequente Digitalisierung sinnvoll ist, von der personalisierten Kundenansprache im digitalen Frontend bis zur durchgängigen Automatisierung der operativen Prozesse. Durch Covid-19 sind keine vollkommen neuen Technologien entstanden, die Krise hat aber die Validität bestehender technologischer Trends bewiesen. Die Modernisierung der IT-Infrastruktur hat eine neue strategische Dringlichkeit bekommen – für Unternehmen aus unterschiedlichsten Branchen, auch für Finanzdienstleister.
Autoren:
Christian Gosch, CIO/COO der Avaloq Sourcing (Europe) AG
Christian Gosch ist als Vorstandsmitglied der Avaloq Sourcing (Europe) AG verantwortlich für IT und Operations. Er stieß im Jahr 2017 als Senior Global Programme Manager zu Avaloq, einem Anbieter von digitalen Banking-Lösungen, Kernbankensoftware und Vermögensverwaltungstechnologie. Als renommierter Bank- und IT-Manager hatte Christian Gosch vor seiner Zeit bei Avaloq bereits verschiedene C-Level-Funktionen inne, zuletzt als Head of Organization and IT/CIO bei der Erste Group Bank AG in Österreich und in Osteuropa. Christian Gosch hat einen Abschluss in Wirtschaftsinformatik von der Universität Wien.
Dr. Hendrik Lemelson, Head of Product Strategy der Avaloq Gruppe
Hendrik Lemelson ist seit Anfang 2019 Mitglied des Produktmanagements von Avaloq, und dort neben dem Pricing und Offering Management für die Produktstrategie des Unternehmens verantwortlich. Vor seinem Eintritt bei Avaloq hat Lemelson als Berater für Unternehmensstrategie – zuletzt bei der Boston Consulting Group – in verschiedenen nationalen und internationalen Projekten führende Unternehmen aus der Finanzbranche und darüber hinaus unterstützt. Lemelson ist studierter Wirtschaftsinformatiker und promovierte in Informatik an der Universität Mannheim.
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