Kürzlich hat der Verband CISPE, zu dessen Mitgliedern auch AWS zählt, angekündigt, eine Kartellbeschwerde gegen Microsoft bei der EU einzureichen. Damit ist der bisherige Höhepunkt im Verteilungskampf der US-Anbieter eingeläutet worden. Doch was sagt das über den Zustand Europas aus?
Europa hatte erst jüngst die digitale Souveränität als Ziel ausgerufen. Das Großprojekt Gaia-X für eine europäische Cloud ist ein Leuchtturm-Projekt und klingt zunächst vielversprechend. Auch die weitere datengetriebene Agenda der EU deutet auf einen neuen digitalen Fokus hin, was angesichts unseres Zeitalters zwingend erforderlich erscheint. Sind wir aber wirklich wach und haben die richtigen Schlüsse gezogen, oder müssen wir frei nach Hegel konstatieren, dass die Völker nichts aus der Geschichte gelernt haben?
Jahrzehnte der Ignoranz
Ein Blick in die vergangenen Jahrzehnte verdeutlicht zunächst den Status quo in Europa. Gerade im Kontext von Software und Digitalisierung ist die Abhängigkeit, in diesem Fall von den USA, astronomisch hoch. Standardsoftware beziehen die Europäer weltmeisterlich insbesondere vom US-Riesen Microsoft. Dass dieser dabei auch mit unlauteren Wettbewerbsmethoden und dem von Software-Herstellern erfundenen fiktivem „Recht“ des Software-Audits kräftig nachgeholfen hat, kann den Erfolgszug teilweise erklären. Auf der anderen Seite waren es die Kunden, Unternehmen und Behörden, die trotz aller Skandale von Unternehmen wie Microsoft – mit Bußgeldern im Einzelfall von 860 Millionen Euro – und Warnungen kühler Strategen keinen Kurswechsel unternommen haben. Selbst das narzisstische und laut Handelsblatt teils „brutale Vorgehen der Hersteller Kunden gegenüber“ erscheint CIOs gewohnt und fatalistisch.
Allein mit Ignoranz lässt sich das nicht erklären – offenbar fühlt sich die Abhängigkeit für viele gut und sicher an. Konformität ist Trumpf. Dabei ist jedoch unbedingt zu bedenken, dass selbst unsere staatliche Souveränität bedroht ist, wenn Ministerien und Regierungen ohne die Software der US-Riesen nicht mehr können. Gesetzt gilt das seit Langem, und die Tatsache spiegelt sich heute täglich aufs Neue in nahezu jeder entsprechenden öffentlichen Ausschreibung, zum Teil mit völlig absurden Inhalten. Während Bietern extensive Erklärungen zur Rechtskonformität abgerungen werden, wird der eigentliche Profiteur ignoriert. Bereits 2008 fragte die EU-Abgeordnete Heidi Rühle, ob keine Aufträge mehr an Microsoft verhängt werden dürften, weil „schwere Vergehen“ im Sinne von Art. 93 EU-Haushaltordnung Microsoft im Kartellrechtverfahren in Form der Verhinderung von Innovationen und Wahlmöglichkeiten zum Nachteil von Verbrauchern nachgewiesen worden seien. Stattdessen beschaffte die EU-Kommission selbst seit 1993 Microsoft-Lizenzen im Wert von Millionen gar ganz ohne Ausschreibung.
Leuchtturm EuGH
Eine Zäsur bewirkte, wie so häufig, der Europäische Gerichtshof. Entgegen der Auffassung einiger tradierter Rechtsgelehrter stellte das Gericht 2012 fest, dass auch Software in jeder Form unsere europäischen Freiheiten genießt und selbstverständlich als „Eigentum“ herstellerunabhängig weiterverkauft werden kann. Damit mussten selbst die mächtigen US-Hersteller ausnahmsweise klein beigeben.
Die Falle der Abonnements
Das hielt leider nicht lange an. Denn die Hersteller hatten bereits eine neue Idee in der Tasche, um den Kunden noch enger zu binden und gleichzeitig Freiheiten einzuschränken. Geboren war die Idee des Abonnements („Subscription“, vielfach verwechselt mit dem Begriff Cloud). Der Kunde erwirbt hier also kein „Eigentum“ mehr, sondern mietet sich beim Hersteller zu dessen dynamischen Bedingungen ein. Dazu zählt selbstredend das Recht der Hersteller, Preise und andere Bedingungen jederzeit anzupassen. All das als Versuch, den Kunden vermeintlich attraktive und meist undurchsichtige Pakete mittels stetiger Beeinflussung schmackhaft zu machen.
Cloud ändert Datenhoheit
Damit war der Machthunger der Software-Hersteller aber natürlich noch nicht gestillt. Da viele clevere Kunden nach wie vor auf Kauf-Lizenzen statt auf Abo setzten, ergänzten die Anbieter ihre Abonnements um diffuse Cloud-Elemente als Abgrenzungsmerkmal zu den Kauf-Versionen.
Hier setzte der Technologiewandel insgesamt ein. Denn zwischenzeitlich war Cloud nach langer Skepsis in aller Munde. Entsprechend betrieben viele Unternehmen ihre IT-Infrastruktur nicht mehr selbst, sondern bauten unternehmenskritische IT-Kompetenzen ab und nutzten Cloud-Infrastrukturbetreiber. Wie zu erwarten, sollten auch hier wieder große US-Anbieter in Europa das Ruder übernehmen. Eine Folge des teilweisen Cloud-Trends in Unternehmen ist, dass mehr als die Hälfte der kürzlich von der renommierten Strategieberatung Gartner befragten Unternehmen ihre IT-Entscheidungen bereut.
Trotz eigentlich bestehender natürlicher Bedenken sowie rechtlich schwerwiegender Risiken, etwa infolge von Datenschutzfragen, vertrauten Unternehmen zunehmend damit auch noch ihre Daten den großen Cloud-Anbietern AWS, Microsoft oder Google an. Bei der aufgezeigten Historie verwundert es daher nicht, dass selbst hinter der EU-Cloud Gaia-X auch Microsoft und AWS stecken. Souveränität sieht anders aus.
Worst-Case-Szenario
Zurückgedacht an den Anfang dieser Betrachtung des Begriffs von Souveränität scheint das Worst-Case-Szenario damit erreicht. Gleichwohl ist sicher, dass die Anbieter auch noch eine nächste Ausbaustufe für ihre Kunden parat haben.
In der Zwischenzeit kämpfen die globalen Schwerstgewichte gegeneinander um die europäische Marktverteilung. Um europäische Interessen und Bedürfnisse ging es bei alledem nie. Im Gegenteil: Diese Anliegen werden noch gekapert, um den jeweiligen Wettbewerber mithilfe europäischer Politik, über die Bande gespielt, zu beschränken. So läuft es aktuell zwischen AWS und Microsoft im neuesten Kartellrechtsverfahren.
CISPE gegen Microsoft: die nächste Runde
Offiziell tritt hier die Vereinigung Cloud Infrastructure Services Providers in Europe (CISPE) in Erscheinung. Dieser gehört unter anderen AWS an. Die CISPE richtet ihre Kritik schon länger gegen Microsoft und deren unfaire Lizenzbestimmungen, die zu Einschränkungen im Cloud-Wettbewerb führten. Dabei hat sie selbst durchaus sinnstiftende Vorschläge zur Liberalisierung der Softwaremärkte, etwa durch Förderung von BYOL-Modellen beigesteuert.
Aufgrund des Drucks und der eventuellen Befürchtung, der Gesetzgeber könnte mit neuen Regeln oder der Einbeziehung von Cloud-Anbietern in den Digital Markets Act der EU reagieren, erklärte Microsoft, insbesondere auf europäische Bedürfnisse und Werte stärker eingehen sowie europäische Cloud-Anbieter unterstützen zu wollen.
Von den folgenden Änderungen der Lizenzbestimmungen durch Microsoft zeigte sich die CISPE jedoch wenig beeindruckt und legte nunmehr eine Kartellbeschwerde gegen Microsoft ein. Dazu wird erklärt (frei übersetzt aus dem englischen Original): „Microsofts anhaltende Position und sein Verhalten schaden dem europäischen Cloud-Ökosystem unwiederbringlich und nehmen den europäischen Kunden die Wahlmöglichkeiten bei ihren Cloud-Implementierungen. Die CISPE sieht sich gezwungen, eine formelle Beschwerde einzureichen und die Europäische Kommission zum Handeln aufzufordern.“
Letztlich wird damit aber eine neue Stufe der europäischen Abhängigkeit gezündet. Nicht genug, dass sämtliche Investments aus Europa in diesem Kontext an US-Unternehmen fließen. Jetzt werden auch unsere demokratischen EU-Institutionen noch damit belastet, im Konflikt der Giganten aufwendige Ermittlungen vorzunehmen und in den Machtkämpfen über unsere europäischen Marktressourcen zu entscheiden. Es mutet schon absurd an, dass sich die multimilliardenschweren US-Unternehmen auf unsere Kosten streiten, wer wie viel vom europäischen Sahnekuchen abbekommt. Während die US-Konzerne unser Recht – einschließlich Steuerrecht – im Wildweststil wo immer möglich ignorieren, umgehen oder unterwandern, mahnen sie es immer dann an, wenn es opportun ist. Es ist damit Mittel zum Zweck verkommen.
Was daraus folgt
Der kurze Galopp durch die vergangenen Jahre zeigt, dass Europa schon lange ein Abhängigkeitsproblem auf zahlreichen Ebenen hat. Das bezieht Energie, Infrastruktur und Ressourcen ein. Gleichzeitig war die Bequemlichkeit zu groß oder das Unbehagen trotz aller Warnungen zu gering, die Situation mit der erforderlichen Ernsthaftigkeit zu überdenken. Selbst die aktuellen Ereignisse scheinen noch immer keinen nachhaltigen Lehreffekt zu bewirken. Es fragt sich, worauf noch gewartet werden soll, um ernsthafte Maßnahmen als Gegenbewegung zu starten. Zunächst muss aber überhaupt einmal – von allen Kunden dieser Unternehmen, also Unternehmen und Behörden, die eigene Rolle und Verantwortlichkeit begriffen werden und damit ein Kulturwandel und Verhaltenswandel eintreten.
Insofern soll dieser Beitrag eine Mahnung für ein umgehendes Überdenken und Handeln sein. Die digitale Geschichte Europas sollte nicht nach Belieben der Software-Hersteller fortgeschrieben, sondern nach Auswegen aus den Zwängen zwischen den Großmächten gesucht werden. Was im Großen schier unmöglich erscheint, kann im Kleinen gelingen.
Offenbar besteht selbst zwischen CISPE und Microsoft Einvernehmen darüber, dass „eigene“ Softwarelizenzen das Machtgefüge austarieren können und den Lock-in-Effekt zumindest abmildern. Der Kunde braucht also eine kraft Gesetzes geschützte Rechtsposition, wozu das „Eigentum“ prädestiniert erscheint. Insofern fühlt sich Andreas E. Thyen, Dipl.-Volkswirt, in seinen langjährigen Bemühungen und vielfachen Publikationen entgegen dem Trend bestätigt: „Die Stärke von On-Premises-Softwarelizenzen liegt gerade in Europa in dem vom Kunden erworbenen „Eigentum“ hieran. Dementsprechend kann der Kunde diese in eigenen IT-Strukturen bis hin zu wechselnder Cloud-Infrastruktur oftmals flexibel einsetzen, ohne sich zusätzlich durch Abonnement- oder meist nicht benötigte (Cloud-) Services abhängig zu machen.“
Dieser Effekt frei gehandelter Software stärkt den europäischen Wettbewerb und entspricht damit letztlich auch den Bedürfnissen der europäischen Cloud-Anbieter. Vor allem aber wahrt der Kunde seine Interessen eines flexiblen und souveränen Softwareeinsatzes und verhindert, zum Spielball im Konflikt zwischen Cloud-Anbietern zu werden. Damit folgt, dass sich Cloud und On-Premises einschließlich gebrauchter Software keineswegs kategorisch ausschließen und zukünftig gerade ein kombinierter Einsatz von On-Premises-Lizenzen in Cloud-Infrastrukturen oder andere Mischformen das Maß der Dinge sein könnten.
Im Ergebnis empfiehlt sich daher, das Eingangszitat von Hegel zu negieren, aus der Geschichte zu lernen und den Streit der US-Giganten um die IT-Vorherrschaft in Europa nicht tatenlos zu bestaunen.