Wie können Unternehmen ihre digitalen Innovationen schneller und kundenzentrierter vorantreiben und gleichzeitig die Implementierbarkeit und Anpassbarkeit ihrer Lösungen sicherstellen? Eine Antwort darauf bieten „Minimum Viable Products“ (MVPs). Das sind Prototypen, die mit Basis-Funktionen ausgestattet sind, um schnell Feedback von Kunden zu erhalten und das Produkt iterativ zu verbessern.
Darüber haben wir mit Marcel Kappestein gesprochen. Er ist Deutschland-Geschäftsführer des globalen Softwareentwicklers und IT-Dienstleisters Avenga, dessen Teams im Projektgeschäft für große Kunden spürbaren Nutzen mit dem Einsatz von MVPs erzielen.
Herr Kappestein, warum sind Minimum Viable Products in der Softwareentwicklung so beliebt?
Marcel Kappestein: Unternehmen setzen MVPs heute gerne ein, das ist richtig. Das war allerdings nicht immer der Fall, ganz im Gegenteil sogar. Vor einigen Jahren mussten wir oft Überzeugungsarbeit leisten, um Unternehmen klarzumachen: Ein MVP verlangsamt nicht die Entwicklung einer Lösung, sondern es beschleunigt sie sogar, senkt dabei die Kosten und macht den Erfolg deutlich wahrscheinlicher.
Es sind vor allem diese drei Gründe, warum der Ansatz inzwischen sehr beliebt ist, aber das mussten Custom Software Developer wie wir bei oftmals noch traditionell arbeitenden Unternehmen erstmal unter Beweis stellen. Heute ist das anders, manche Kunden fragen proaktiv nach Unterstützung bei der Entwicklung eines MVP, um Projekte intern damit so richtig in Schwung zu bringen.
Wie hat sich der Blick auf das MVP geändert, und was überzeugt auch Zweifler von der Methode?
Marcel Kappestein: Das Wort „viable” wird oft eins zu eins mit „lebensfähig” übersetzt, und natürlich wollte ursprünglich kein Entscheider etwas von einem „minimal-lebensfähigen” Produkt wissen. Da es bei jedem Vorgehen in der Softwareentwicklung Zwischenschritte gibt, wurden die Erfahrungen damit einfach auf den MVP-Ansatz übertragen: Dadurch wurde das MVP schnell als „Entwurf” oder „Proof of Concept” missverstanden und nicht als etwas, das release-fähig ist. Inzwischen hat sich die Bedeutung – und das Verständnis – des MVP-Ansatzes gänzlich geändert.
Customer Centricity ist heute für die meisten Unternehmen viel wichtiger geworden, da die digitale Welt zu schnell für das lange „Fertigentwickeln” von Lösungen ist. Sowohl End- als auch Unternehmenskunden erwarten heute, dass ihre Service-Anbieter direkt auf neue Trends reagieren und nicht jahrelang an der perfekten Lösung feilen. Die meisten Softwarelösungen sind ohnehin nie final „fertig”, sondern werden stetig weiterentwickelt. Wie sonst könnte man den sich ständig verändernden Anforderungen der Kunden und auch der Hardware, auf der die Anwendungen laufen, gerecht werden?
Deshalb ist ein MVP am Anfang des Lebenszyklus‘ etwa einer App extrem wertvoll, da es viel schneller und kostengünstiger entwickelt werden kann als die gesamte Vision. So können Unternehmen mit ihren Angeboten zügig am Markt sein und sich wichtige Anteile sichern. Man darf auch nicht unterschätzen, dass Unternehmen sich frühzeitig Feedback von Nutzern einholen und das dann gezielt in neue Versionen einfließen lassen können. Öfter, als manche vielleicht glauben, verändert das Feedback dann auch das Ziel und die nächsten Schritte. Das verhindert teure Fehlentwicklungen und minimiert das Geschäftsrisiko deutlich, Zeit und Geld in die Entwicklung von Produkten zu investieren, die am Ende vielleicht gar keine Nachfrage finden.
Gleichzeitig erlauben MVPs es, die Komplexität in Projekten auf ein Minimum zu reduzieren. Das hat gleich mehrere Vorteile:
- 1. Durch die Verbesserung der Passgenauigkeit von Produkten wird ihre Akzeptanz gesteigert und somit der spürbare Nutzen für das Unternehmen maximiert.
- 2. Interne Team können sich auf die wichtigsten Aspekte des Produkts fokussieren, was die Entwicklungsprozesse schneller und effizienter gestaltet.
- 3. Die Kapazitäten und Ressourcen können optimal eingesetzt und gegebenenfalls für andere Geschäftsbereiche freigemacht werden.
- 4. Eine höhere Lieferfähigkeit, Implementierbarkeit und Anpassungsfähigkeit der eigenen Produkte wird gewährleistet.
All das zusammengenommen schafft einen echten Mehrwert für Unternehmen: eine größere Wettbewerbsfähigkeit in einem schnelldrehenden Markt, der auf niemanden wartet. Das erkennen auch die größten Zweifler.
Wie können Unternehmen neben diesen externen Faktoren auch intern von MVPs profitieren?
Marcel Kappestein: Neben Faktoren wie Kosten- und Zeiteinsparungen ist einer der größten Vorteile von MVPs, dass sie es Unternehmen ermöglichen, den sogenannten Build-Measure-Learn-Ansatz zu verfolgen: Dabei wird zunächst ein gemeinsames Verständnis darüber geschaffen, was man überhaupt bauen möchte. Auf dieser Grundlage lässt sich anschließend eine klare Zielrichtung für das Projekt festlegen. Hier geht es nicht nur um die Entwicklung des Produkts selbst, sondern auch um die Definition von Erfolgskriterien und das Setzen von Meilensteinen.
Der Fokus auf das Wesentliche und die iterative Entwicklung von MVPs vereinfacht außerdem das Projektmanagement. Es gibt klare Abschnitte, in denen das Projektteam Feedback sammelt und Entscheidungen trifft. Das gewährleistet Transparenz und ermöglicht es, schnell auf Änderungen zu reagieren.
Auch intern sorgt die Arbeit mit MVPs für eine gewisse „Werbung”, da erste Erfolge dieses Ansatzes schnell erkennbar sind. Zudem kann das Unternehmen alle Stakeholder von Beginn an in den Prozess einbinden, damit sie ihre Ideen und Feedback einbringen können. Das schafft Vertrauen und fördert die unternehmensweite Zusammenarbeit.
Welche Grundsätze sollten Unternehmen beachten, damit das Vorgehen mit den Prototypen diese Versprechen auch wirklich einlösen kann?
Marcel Kappestein: Unternehmen brauchen ein Grundverständnis davon, wie erfolgreiches iteratives Arbeiten funktioniert, damit sie maximal von der Arbeit mit einem MVP profitieren können. Das Stichwort ist hier kontinuierliche Produktentwicklung statt „klassischer” Projektarbeit. Viele Unternehmen machen den Fehler, zu viele Funktionen zu perfekt umsetzen zu wollen. Viel wichtiger ist aber, dass sie sich Möglichkeiten für Optimierungen offenlassen. Ein weiterer wichtiger Grundsatz ist, die Nutzeransicht, also das Frontend, zu priorisieren. In den letzten Jahren hat sich die Erwartungshaltung von Verbrauchern an digitale Dienstleistungen grundlegend geändert, nicht zuletzt dank des großen Erfolgs von
Streamingdiensten oder Online-Shopping-Anbietern wie Amazon. Kunden wollen heute optisch ansprechende Benutzeroberflächen, die einfach zu bedienen sind. Das ist keine Besonderheit mehr, sondern wird als Standard erwartet! Und das beobachten wir branchenübergreifend, im Retail-Bereich ebenso wie bei traditionellen Banken oder Versicherungen. UX/UI und Customer Experience gehören von Anfang an in die Planung und dürfen nicht in einem Nebensatz abgehandelt werden.
Können Sie Beispiele aus echten Projekten nennen, in denen MVPs einen entscheidenden Anteil hatten?
Marcel Kappestein: Ich denke da beispielsweise an ein Kundenportal, das wir für SwissLife Deutschland, einen Anbieter von Finanz- und Vorsorgelösungen, entwickelt haben. Die Herausforderung war, eine Portallösung zu bauen, die eine optimale Balance zwischen neuem Frontend und bestehendem Backend findet. Gemeinsam mit dem Kunden haben wir für dieses Projekt einen iterativen Prozess aufgesetzt und das Portal in crossfunktionalen Teams entwickelt. Sobald erste Prototypen der neuen Features nutzbar waren, gingen sie als MVP live.
Dadurch konnten wir das Nutzerfeedback direkt in die Entwicklung integrieren und Änderungen schnell und flexibel umsetzen. Das Ergebnis: Laut einer internen Umfrage des Versicherers sind 80 Prozent der Kunden „zufrieden” oder sogar „begeistert” von der neuen Lösung und nutzen das Portal mindestens wöchentlich. Das zeigt mir, dass der Ansatz erfolgreich war.
Herr Kappestein, wir danken für das Gespräch.