Immer wieder kommt es vor, dass gute Produkte scheitern. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Viele denken, Erfolg sei an das Wissen eines Teams beim Projektstart geknüpft. Allerdings ist es mindestens ebenso wichtig, sich neue Kompetenzen anzueignen, durch Erfahrung dazuzulernen und das Erlernte umzusetzen.
Probleme zu lösen, Chancen auszuloten und fundierte Entscheidungen zu fällen sind Merkmale einer Kultur, in der Teams jede Handlung als Möglichkeit sehen, etwas zu lernen.
Auch wenn Risiken durch Erprobung der Ideen und durch Versuche minimiert werden, ist das Ergebnis nicht immer das richtige. Häufig wird der Fehler gemacht, ein gutes Resultat beim Prototyp damit zu verwechseln, dass auch eine ausgeprägte Problemaffinität besteht oder seitens der Kunden eine starke Nachfrage nach der Lösung herrscht. Bei jedem dieser Faktoren – Problem, Lösung, Nachfrage – handelt es sich um Einzelaspekte, die jeweils einen anderen Lernansatz erfordern.
Beurteilung des Problems
Es mag banal klingen, aber als Allererstes muss sicher sein, dass das zu lösende Problem den Aufwand auch wirklich lohnt. Zum Beispiel muss es ausreichend viele Kunden geben, die unter einem echten Pain Point leiden, oder in einem Unternehmen ist ein Prozess dermaßen ineffizient, dass er dringend überarbeitet werden muss.
Ganz gleich, wie überzeugt Entwickler von ihrer Lösung sind, sie sollten sich nicht von ihren eigenen Ideen mitreißen lassen, bevor sie Klarheit über die tatsächliche Problematik der Kunden haben. Es ist unglaublich, wie viele Produkte scheitern, weil sie zwar ein „Problem“ lösen, allerdings keines, das wirklich relevant ist.
Für ein tiefgreifendes Verständnis muss man sich unbedingt die Situation des Kunden und die jeweiligen Prozesse vergegenwärtigen. Zwei Methoden können hierbei hilfreich sein:
- Ein ausgezeichnetes Instrument, mit dem sich Kundeninteraktionen verstehen und Probleme präzise lokalisieren lassen, ist das sogenannte Experience Mapping. Dabei wird die gesamte Customer Journey von außen betrachtet und visuell abgebildet. Im Wesentlichen handelt es sich um eine Karte, die zentrale Erkenntnisse aufzeigt und es ermöglicht, die Kundenerfahrung zu optimieren.
- Bei der Wertstromanalyse (Value Stream Mapping) werden sämtliche Handlungen, mit denen das Unternehmen für den Kunden Mehrwert schaffen will, aus Innensicht dargestellt. Diese Methode ist besonders gut geeignet, um überflüssigen Aufwand sowie Engpässe zu erkennen und zu beseitigen. So lassen sich Prozesse effizienter gestalten und das Erlebnis der Kunden noch verbessern.
Wer die Bedürfnisse, das Verhalten und die Herausforderungen der Kunden verstehen möchte, hat die Qual der Wahl unter zahlreichen Tools und Methoden. Eine Studie auf der Grundlage einer statistisch genauen und neutralen Erhebungsmethode ist eine Fachkompetenz, die bei sachkundiger Ausführung von hohem Wert ist. Häufiger sind es jedoch direkte Beobachtungen und offene Gespräche, die den Produktteams tiefere Einblicke und ein besseres Verständnis von Kundenbedürfnissen verschaffen.
Im Kundengespräch lassen sich anfängliche Annahmen schnell überprüfen. Bei richtiger Vorgehensweise lässt sich anhand der Erkenntnisse das zu lösende Problem zuversichtlich angehen – oder Denkfehler und Trugschlüsse werden deutlich. Es geht nie um die Gewissheit, Entscheidungen zu treffen, sondern stets um das Vertrauen, mit einem ganzheitlicheren Verständnis zu agieren.
Bewertung potenzieller Lösungen
Nachdem das Problem gründlich erfasst wurde und die besten Lösungsansätze entwickelt wurden, müssen die Ideen getestet werden. Nur so lässt sich sicherstellen, dass der richtige Lösungsweg eingeschlagen wird. Der Bewertungsansatz für Lösungen hängt von verschiedenen Faktoren ab: dem zeitlichen Rahmen, den vorhandenen Ressourcen, dem Budget und davon, ob ein neues Produkt entwickelt oder eine bestehende Lösung optimiert werden soll. Hier einige Ansätze, die in Frage kommen:
- Ein Designprototyp ist eine Grobskizze oder ein einfaches Modell zum „Schnelltest“ von Konzepten bei Kunden. Diese Vorgehensweise ist kostengünstig und resultiert oft in ehrlicherem Feedback, da nicht viel Aufwand in die Skizzen gesteckt wurde.
- Bei einem realitätsnahen Prototyp wird das Produkterlebnis detailliert und interaktiv modelliert. So lassen sich Interaktionsdesign, Inhalt und Look-and-Feel besser beurteilen. Ausgehend von den Rückmeldungen lassen sich problemlos Iterationen und Verbesserungen vornehmen.
- Das Concierge-Modell ist ein personalisierter Service, der zunächst einem begrenzten Kreis von Kunden zur Verfügung gestellt wird. So kann man feststellen, welche Möglichkeiten funktionieren, bevor man eine automatisierte Lösung entwickelt. Nachteile bei diesem Ansatz sind allerdings die schwierige Skalierung und das Risiko einer Nischenanwendung, denn der begrenzte Kundenkreis ist womöglich nicht repräsentativ für den allgemeinen Markt.
- Ein Funktionsprototyp, der an einer Stichprobe echter Kunden getestet wird, ist zwar kostspielig, liefert jedoch wertvolle Erkenntnisse darüber, was tatsächlich funktioniert. Dies ist besonders bei der Entwicklung von Neuprodukten hilfreich.
- Bei einem vorhandenen Produkt oder Service führen quantitative Analysen und Split-Tests/multivariate Prüfungen zu Feedbackschleifen, mit deren Hilfe agile Product Delivery Teams leichter über die nächsten Schritte entscheiden können. Mit Hilfe von multivariaten Verfahren werden mehrere statistische Variablen gleichzeitig untersucht.
Die Marktnachfrage einer Lösung testen
Die entwickelte Lösung muss technisch wie wirtschaftlich realisierbar sein und exakt zum richtigen Zeitpunkt auf den Markt kommen. Statt Geld für etwas auszugeben, von dem man annimmt, dass es nachgefragt wird, sollte man untersuchen, welche Lösungen tatsächlich gewünscht oder benötigt werden. Eine Nachfragemessung macht deutlich, ob und wo Investitionen sinnvoll sind. Konträr zum Ansatz „Einfach machen, die Kunden kommen dann von selbst“ muss es im Sinne der Nachfragebeurteilung heißen: „Wenn sie kommen, dann mach‘s“.
Ein möglicher Test hierfür wäre z. B. eine Marketingkampagne, die der Entwicklung vorausgeht. Zielkunden könnten mithilfe einer Suchmaschinenanzeige auf eine einfache Landing-Page über das Produkt geleitet werden. Bei dieser Art der Werbung kann man mit verschiedenen Varianten experimentieren, um herauszufinden, was gut ankommt. In Kombination mit Wartelisten oder Vorbestellungen lässt sich einiges über potenzielle Kunden und deren Interesse an der Lösung erfahren.
Um vor der Investition in eine Komplettlösung einen genauen Eindruck von der organischen Marktnachfrage zu erhalten, bietet sich ein Wizard-of-Oz-Prototyp an. In Aussehen und Anwendung ähnelt er einem vollständigen und funktionsfähigen Service, allerdings erfolgen alle Prozesse im Hintergrund manuell und imitieren eine automatisierte Echtzeitlösung.
Fazit
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Lernen vom Kunden für den Erfolg des Produkts ausschlaggebend ist. Es nützt allerdings nichts, wenn man mit der falschen Einstellung an die Produktentwicklung herangeht. Man sollte nicht dem Irrglauben erliegen, dass Tests nur durchgeführt werden, um Erwartungen zu bestätigen und diesen Punkt auf der Checkliste abzuhaken. Entscheidungsprozesse lassen sich nicht in ein festes System bringen, und beim Umsetzen einer Strategie gibt es keine Gewissheit. Wirklich vom Kunden zu lernen heißt, die bisherige Denkweise bei der Beurteilung aufzugeben. Es muss klar sein, was man lernen möchte, um die nächste Entscheidung zu treffen. Man muss die richtigen Experimente auswählen, um das Richtige zu lernen. Und man sollte aufgeschlossen und flexibel reagieren, wenn man etwas lernt, mit dem man nicht gerechnet hat.
Jonny Schneider ist Principal Consultant bei ThoughtWorks und arbeitet als Experience Designer und Produktstratege. Während der letzten zehn Jahre hat er Teams geleitet, die mobile Anwendungen und Services entwickeln. Jonny Schneider hat für einige der bekanntesten Marken in Australien sowie weltweit gearbeitet, unter anderem in Finanzdienstleistung, Telekommunikation und Handel.
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