Umfrage

Politik versagt? 54% der Freelancer erwägen Auswanderung

Auswandern-Reise

Jede:r vierte Freiberufler:in hat es bereits getan oder steht kurz davor: Laut einer aktuellen Umfrage der Freelancing-Plattform freelancermap kehren immer mehr Solo-Selbstständige Deutschland den Rücken zu.

Sie sehen sich von der Politik ausgebremst, durch zu viel Bürokratie und fehlende Rechtssicherheit in Sachen Scheinselbstständigkeit. Ein Weckruf an die Parteienlandschaft, der noch nicht überall verstanden wird.

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Von über 500 von freelancermap befragten Freiberufler:innen kommt nur für 22 Prozent eine Auswanderung nicht in Frage. Über die Hälfte (54 Prozent) geben an, dies zumindest in Betracht zu ziehen – und 14 Prozent stecken gerade in konkreten Vorbereitungen, Deutschland zu verlassen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Laut dem aktuellen Freelancer-Kompass, der größten Umfrage unter Freelancern, Freiberufler:innen und Selbstständigen im deutschsprachigen Raum wünschen sie sich vom Staat vor allem die Reduzierung der Bürokratie (69 Prozent) und die Abschaffung des Rechtsstatus der Scheinselbstständigkeit (61 Prozent). „Es wird immer schwieriger, selbstständig zu sein“, bestätigt auch Olivia Olivares, freiberufliche Expertin für digitales Marketing. „Man verliert schon den Überblick über die ganzen Regelungen und Gesetze.“

Scheinselbstständigkeit erschwert Akquise

„Besonders die geringe Rechtssicherheit mindert die Bereitschaft vieler Unternehmen, trotz ihres akuten Bedarfs mit Freelancern zusammenzuarbeiten“, erläutert Thomas Maas, CEO der Freelancing-Plattform freelancermap. „Zu groß ist die Angst, nach einer Betriebsprüfung rückwirkend für mehrere Jahre Sozialabgaben nachzahlen zu müssen.“ Auch deshalb, so Andreas Lutz, Vorstandsvorsitzender des Verbandes der Gründer und Selbstständigen Deutschland e. V. (VGSD), habe sich das Auftragsangebot für IT-Freelancer in den letzten Jahren halbiert: „So werden Aufträge beendet und an Selbstständige im Ausland vergeben.“

Wandert die Nachfrage ab, folgt das Angebot: Jeder vierte Freelancer hat Deutschland bereits dauerhaft verlassen (10 Prozent) oder sitzt bereits auf gepackten Koffern (14 Prozent). Die Ursache ist Frust. Die Befragten beklagen „Gängelei“ und Überregulierung – und sehen im Ausland bessere Perspektiven: weniger Stress mit den sozialen Sicherungssystemen, weniger Bürokratie, niedrigere Steuern und mehr Lebensqualität. Tatsächlich wirbt etwa Portugal mit seinem Non-Habitual-Resident-Steuerregime bereits um bürokratiemüde digitale Nomaden und Nomadinnen, die dort für zehn Jahre erhebliche Steuererleichterungen genießen – und das bei um ein Drittel niedrigeren Lebenshaltungskosten.

Politischer Rahmen bleibt umstritten

„Angesichts des Fachkräftemangels können wir es uns schlicht nicht leisten, auf diese Talente zu verzichten“, warnt etwa Nina Stahr. Sie saß bis zur Wiederholung der Wahl in Berlin 2024 für die Grünen im Bundestag. Auch MdB Marc Biadacz von der CDU meint: „Da sind Arbeitsplätze und Menschen, die nicht verlorengehen dürfen.“ Er würde die Bevölkerung gerne selbst entscheiden lassen, wie sie arbeiten und ihr Geld verdienen möchte – „die Politik muss nur den Rahmen dafür schaffen“. Doch wie der aussehen soll, da sind sich die Parteien uneins.

Dieter Falk, Beisitzer im Bundesvorstand der Arbeitsgemeinschaft der Selbstständigen (AGS) in der SPD, arbeitet seit der Jahrtausendwende selbst als Freelancer. Er meint: Freiberufler:innen, die auskömmlich bezahlt werden, brauchen eigentlich nicht vom Staat vor Ausbeutung geschützt werden. Der aktuelle Freelancer-Kompass zeigt, dass der durchschnittliche Stundensatz bei freien Expert:innen aktuell bei 102 Euro liegt, und dass diese über 1.100 Euro pro Monat für ihre Altersvorsorge zurücklegen. Dennoch gäbe es „natürlich Hunderttausende, wenn nicht Millionen“, die als Solo-Selbstständige kaum das Existenzminimum erwirtschafteten, hält Falk dagegen. „Wer dann sehr wenig verdient und Sozialleistungen bekommen muss, erhält letztlich jene Leistungen von der Allgemeinheit, die der Unternehmer ihm vorenthalten hat.“

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„Politik denkt in Angestelltenverhältnissen“

Für MdB Jens Teutrine von der FDP ist diese Sichtweise ein Musterbeispiel dafür, dass die Politik in ihrer Ausrichtung maximal auf Angestellte fixiert ist: „Die Selbstständigkeit wird als Beschäftigung zweiter Klasse betrachtet – das ist ein grundsätzliches kulturelles Problem.“

Rolf Schmachtenberg arbeitet als Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales unter anderem an der Pflichtversicherung für Selbstständige, welche gemäß Koalitionsvertrag noch in dieser Legislaturperiode umgesetzt werden soll. Er verweist auf eine am 1. April 2022 in Kraft getretene Reform des Statusfeststellungsverfahrens, nach der die Clearingstelle der Deutschen Rentenversicherung Bund auf Antrag heute schon vor Beginn der Zusammenarbeit verbindlich bescheiden könne, dass keine Sozialversicherungspflicht vorliege.

Positivkriterien als „Lizenz zum Freelancing“

Andreas Lutz vom VGSD kann in der Reform dennoch keinen Fortschritt erkennen: „Sie hat zu mehr Rechtsunsicherheit, längeren und bürokratischeren Verfahren geführt.“ Wie Jens Teutrine von der FDP kritisiert er, dass die Beurteilung weiterhin nach Negativkriterien erfolgt. Beide wünschen sich eine Regelung, nach der Freelancer bestimmte Voraussetzungen hinsichtlich Honorarhöhe und privater Vorsorge erfüllen müssen – dann aber sicher als Selbstständige gelten. „Man könnte ja auch mal darüber nachdenken, ob es nicht noch andere Institutionen gibt, die das vielleicht sinnvoller prüfen könnten, weil sie kein Eigeninteresse daran haben, neue Beitragszahler zu gewinnen“, so Teutrine. „Die Finanzämter beispielsweise.“

In diesem Punkt stimmt ihm sogar der Grüne MdB Erhard Grundl zu: „Eigentlich hätten wir mit der Kleinunternehmerregelung bereits ein gesetzlich festgelegtes Kriterium.“ Er weiß auch um die Schwächen der aktuellen Vorgaben – Fälle, in denen die geschäftsführenden Inhaber:innen kleinerer Verlage rückwirkend zu hohen Nachzahlungen verpflichtet wurden. Das habe sie in massive Existenznöte gebracht, gibt Grundl zu. Dass die Praxis der Überprüfung auf Scheinselbstständigkeit fallen wird, ist für Grundl nicht die Lösung. „Selbständigkeit ist ein wichtiger Bestandteil der Wirtschaftskraft unseres Landes. Es ist dabei wichtig, eine klare Abgrenzung zur Scheinselbständigkeit festzulegen. Weisungsgebundenheit verträgt sich nicht mit der Selbstständigkeit. Wichtig ist, dass sich die Rentenversicherung bei ihrer Überprüfung nachvollziehbarer Kriterien bedient“, so Grundl.

Stillstand fördert Abstimmung mit den Füßen

Seine Einschätzung dürfte jene Freelancer bestätigen, die schon heute ihre Abwanderung planen. „Der Kulturwandel in der Arbeitswelt hat die Anpassungsfähigkeit der Politik überholt“, meint auch Thomas Maas von freelancermap. Laut Freelancer-Kompass 2024 arbeiten 57 Prozent der Freiberufler:innen mittlerweile komplett remote – und sind damit vollständig unabhängig von ihrem Einsatzort. Schätzungen zufolge könnte die Zahl der digitalen Nomad:innen bis 2035 auf eine Milliarde ansteigen. Wie viele deutsche Freelancer darunter sein werden, hängt auch von der Politik der nächsten Jahre ab.

(pd/freelancermap)

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