In den vergangenen Jahren waren fast alle Branchen von Unterbrechungen und Unsicherheiten der Lieferketten betroffen. Auch die Automobilindustrie – die wohl eine der komplexesten Lieferketten besitzt – ist mit beispiellosen Lieferkettenstörungen konfrontiert. Das wird sich in absehbarer Zeit nicht ändern. Einige der aktuellen Herausforderungen sind:
Kapazitätsprobleme
Die mangelnde Transparenz der Transportkapazitäten ist ein kritischer Punkt. Ein konkretes Beispiel ist der Straßentransport: Lkw-Fahrermangel, Verkehrsstaus und die begrenzte Verfügbarkeit von Kapazitäten, die nicht der Standardgröße entsprechen, schränken die Flexibilität ein und stellen die Automobilunternehmen häufig vor Herausforderungen. In diesem angespannten Umfeld ist es noch schwieriger, ein wirtschaftlich optimales Szenario zu finden.
Inbound-Logistik
OEMs verlassen sich bei der Beschaffung von Automobilkomponenten während der Produktionsphase auf einen geordneten Lieferprozess (Just-in-Time/Just-in-Sequence-Planung). An großen Produktionsstandorten kommen täglich Hunderte von Lastwagen an. Ohne Lieferkettentransparenz sowie geeignete Planungs- und Zuteilungstools, die diesen Zustrom steuern, sind Verkehrsstaus, Produktionsstopps und andere Verzögerungen die logische Folge.
Beschleunigungs- und Maklerkosten
Wenn ein OEM aufgrund von Lieferengpässen mit einer Nachfragespitze konfrontiert ist, sind teure, nicht standardisierte Maßnahmen das einzige Mittel, um die Kundenbedürfnisse zu befriedigen – dazu gehören zum Beispiel die Nutzung von Luftfracht, die das Zehnfache der Standardfracht kostet, oder der Kauf von Teilen von Drittbrokern zu einem Vielfachen der OEM-Stückkosten. Diese nicht standardisierten Kosten sind in den letzten drei Jahren in die Höhe geschnellt und machen leicht zwei- bis dreistellige Millionenbeträge aus.
Höhere Gewalt
Angesichts der geopolitischen Spannungen und der Zunahme extremer Wetterereignisse stehen die globale Supply Chains vor immer größeren Herausforderungen durch kurzfristige, unerwartete Störungen der Lieferketten und Logistiknetzwerke. Dafür gab es in den letzten Jahren viele Beispiele – von der COVID19-Pandemie über immer extremere Wirbelstürme und Dürreperioden bis hin zum Festfahren des Schiffs „Ever Given“ im Suezkanal im Jahr 2021. Während einer durch höhere Gewalt bedingten Problemsituation haben OEMs keinen Überblick darüber, wo sich welche Teile oder Komponenten befinden, welche Funktionen und Modelle von einem solchen Mangel betroffen wären, und agieren im Grunde im Blindflug.
Mit Planungsplattformen Zeit und Geld sparen
Wenn Herausforderungen in der Lieferkette auftauchen (und das werden sie immer), bietet der Zugang zu Planungsplattformen der nächsten Generation für die Lieferkette ein Maß an unternehmensübergreifender Visibilität, das wichtige Entscheidungen für ein Unternehmen ermöglicht. Ein aktuelles Beispiel ist der Russland-Ukraine-Konflikt. Viele Unternehmen haben die Produktion in russischen Werken eingestellt, obwohl diesen eine große Menge an Produktion und Material zugedacht war. Mit fortschrittlichen Planungstools, die einen vollständigen digitalen Zwilling der Lieferkette nutzen, einschließlich der Abstimmung von Angebot und Nachfrage auf Auftragsbasis, können solche Probleme innerhalb von Tagen oder Wochen gelöst werden, statt wie sonst in Monaten, was die Unternehmen Millionen von Euro gekostet hätte.
Aus einer allgemeineren Perspektive betrachtet: Wie profitieren Unternehmen von einer größeren Visibilität ihrer Lieferketten und den damit verbundenen Planungsmöglichkeiten?
Datentransparenz in Echtzeit
Anbieter von Tracking-Systemen, die Logistikdaten in Echtzeit liefern, bieten Erstausrüstern ein Maß an Visibilität, das es ihnen ermöglicht, den Standort ihrer Lkw zu kennen und zu wissen, wann die Teile geliefert werden. Der nächste Schritt beim Aufbau einer durchgängigen Transparenz besteht darin, diese Daten mit einer Planungsplattform der nächsten Generation zu verbinden, die einen digitalen unternehmensübergreifende Supply-Chain-Zwilling bietet. So erhalten sie Einblicke in die spezifische Nachfrage, die durch jede Lieferung erfüllt wird. Das macht es möglich, Produktionsslots neu zuzuweisen, Bandstopps zu vermeiden, die Auslastung zu erhöhen und letztlich Umsatz sowie Marge zu steigern. Da Automobilunternehmen hochkomplexe, globale Lieferketten betreiben, erfordert es modernste Technologie eine solche Neuplanung durchzuführen. Cloud-native, auf Graphentechnologie basierende Plattformen können helfen, sowohl die notwendige Geschwindigkeit als auch die nötige Berücksichtigung der Komplexität, zu bewältigen. Herkömmliche Technologien erfordern in der Regel Kompromisse zwischen diesen beiden Kriterien. Solche Tools sollten auch mit Warenwirtschafts- und anderen Ausführungssystemen integriert werden, um sicherzustellen, dass wichtige Planungsentscheidungen umgesetzt werden.
Die Fähigkeit, Daten in Wissen zu verwandeln
Als erstes müssen alle relevanten Daten aus verschiedenen Quellen gesammelt werden (ERP-Stamm- und Transaktionsdaten, Informationen zu Lieferanten und aus dem CRM, öffentliche Daten (wie Wetter- und Streikankündigungen, Berichte von Dritten wie BIP-Prognosen, Rohstoffindizes usw.). Der nächste – und entscheidende – Schritt besteht darin, diese Daten zu nutzen und in Wissen umzuwandeln, welches die Entscheidungsfindung unterstützt. Fortgeschrittene Planungssysteme bieten Control Tower, die den Planungsbeauftragten einen Überblick über die wichtigsten Alerts geben, die ihre Aufmerksamkeit erfordern – zum Beispiel Kapazitätsengpässe, Lkw-Verspätungen, Höhe der Lagerbestände – sowie eine Gesamtübersicht über das gesamte Lieferkettennetzwerk. Diese Alerts werden auf der Grundlage unternehmensspezifischer Kriterien nach Prioritäten geordnet (zum Beispiel die finanziellen Auswirkungen auf der Grundlage der betroffenen Kundenlieferungen, die Folgen für CO2-Emissionen und den Servicelevel). Ein Planer kann diese Alerts auf der Grundlage von Produkt- oder Standortattributen filtern, die Netzwerkprioritäten ändern und präskriptive Lösungsempfehlungen nutzen. So kann er mehr Zeit auf die Suche nach der richtigen Lösung verwenden, anstatt überhaupt eine Lösung zu finden.
Ein typisches Beispiel aus dem Bereich der Automobilindustrie: Zwei Lastwagen mit Nachschub sitzen mitten im Nirgendwo fest. Das Planungssystem weiß, für welche Funktionen und Fahrzeuge diese Teile benötigt werden. Da jede Materiallieferung einem bestimmten Auftrag zugeordnet ist, kann das System die finanziellen Auswirkungen des erwarteten Engpasses abschätzen. Lkw 1 transportiert Teile, die an verschiedenen Standorten des Netzwerks vorrätig sind. Mit Hilfe von Cross-DC-Lieferungen kann dieser Engpass ausgeglichen werden, ohne dass die Lieferung an den Kunden beeinträchtigt wird. Lkw 2 befördert kritische Halbleiter, die für die Fertigstellung von 100 Autos in zwei Wochen benötigt werden. Der Planungsverantwortliche genehmigt die vorgeschlagenen Cross-DC-Transporte für die erste Option. Dann konzentriert er sich auf das zweite Problem, indem er direkt auf der Planungsplattform mit dem Lieferanten zusammenarbeitet, um einen Weg zu finden, die benötigte Menge an Teilen rechtzeitig ins Werk zu bringen. Trotz der Kosten von 30.000 Euro für die Schnelllieferung können so Opportunitätskosten von 300.000 Euro vermieden werden.
Modellierung von Szenarien
In vielen Fällen gibt es für Probleme wie das im letzten Absatz beschriebene nicht die eine, ideale Lösung. Planungsverantwortliche verbringen heute viel Zeit damit, verschiedene Lösungsszenarien zusammenzustellen, die zugrunde liegenden Kosten zu berechnen und die beste Lösung zu finden. Dabei schrumpft der Handlungsspielraum, da für einige Lösungen die Zeit abläuft. Intelligente Planungssysteme haben vorgefertigte Szenarien und weisen aktiv auf mögliche Lösungen hin. Darüber hinaus können Planungsbeauftragte damit innerhalb von Minuten „Was-wäre-wenn“-Szenarien erstellen und die finanziellen und betrieblichen Auswirkungen vergleichen, was die Entscheidungsfindung erheblich beschleunigt. Solche Szenarien können Optionen wie die schnellere Lieferung, alternative Beschaffung von Teilen, die Anpassung von Lieferplänen für eine frühere Ankunft oder die Neuausrichtung der Produktion berücksichtigen.
Synthese
Die Fähigkeit, Störungen abzumildern und eine zukunftssichere Lieferkette aufzubauen, erfordert die Technologie einer integrierten Planungsplattform, die auf einem digitalen Zwilling der unternehmensübergreifenden Lieferkette basiert. Qualitativ hochwertige Daten sind die Grundlage einer solchen Plattform. Daher sind Partnerschaften mit spezialisierten Anbietern, zum Beispiel für Echtzeit-Transportdaten, und eine einfache Integration in den Gesamtdatenpool entscheidende Erfolgsfaktoren. Dennoch reicht die Datentransparenz in einem isolierten Teil der Lieferkette nicht aus, um eine wirkliche Resilienz der Lieferketten und optimierte Gewinne zu erreichen. Die Einbeziehung der Auswirkungen einer Unterbrechung der Lieferkette über die gesamte Lieferkette (vom Kunden bis zu den Tier-N-Lieferanten) und über Zeithorizonte (von der strategischen über die taktische bis zur operativen Planung) sind die wichtigsten Erfolgsfaktoren, um die aktuellen Herausforderungen zu meistern.
Autor: Jonas Goßler, Industry Solutions Team, o9
www.o9solutions.com