Die letzten Monate haben uns befeuert, Fortschritte in der Digitalisierung zu machen. Es gibt kaum jemand, der von sich nicht sagen kann, dass er extrem viel gelernt hat, was den Umgang mit Technik, modernen Medien, Videocalls und Webkonferenzen anbelangt.
Was ist, wenn alle Fortschritte machen? Es braucht immer mehr, um sich abzuheben und noch einen Zacken professioneller zu wirken als der Normalo.
Die Entwicklungen der letzten Monate waren rasant: Tech-Muffel wurden zu veritablen und virtuosen Usern. Freaks fühlten sich begehrt. Und auf der Suche nach immer noch raffinierteren Tools haben wir erkannt, dass es im Grunde kaum eine Grenze gibt, ganz nach dem Motto: geht nicht, gibt’s nicht. Das ist in der digitalen Welt wahrer denn je.
Mich erinnerten die Wandlungen und Veränderungen, der neudeutsche ,,Change’’, an jene Zeiten, in denen Menschen noch im Fußballstadion sein konnten: Man sitzt auf den Stehplätzen auf der Treppe – so war das vor Jahren selbst in den oberen Ligen, zumindest in der Schweiz. Vorne beginnen die ersten aufzustehen. Die Leute in der dahinterliegenden Reihe müssen auch aufstehen, sonst sehen sie nichts mehr. So geht es wellenartig weiter, bis alle stehen. Man sieht zwar nicht mehr als damals, als alle noch saßen – aber wer jetzt noch sitzt, sieht tatsächlich gar nichts mehr.
Wer im März 2020 überhaupt in der Lage war, Zoom und ähnliche Programme einigermaßen fehlerlos zu bedienen, war der Held. Die ersten Meetings, bei denen man sich per Videokamera sah, waren wahre Aha-Erlebnisse. Für viele war die Situation vergleichbar mit dem Moment, als das erste Automobil vor über 100 Jahren durch das eigene Dorf fuhr. Die Helden der Straße von damals sind heute die Eroberer, Vorbilder und Berühmtheiten im Netz.
Fortschrittliche Wirkungsweisen
Weiter ging es im High-Speed-Tempo: Tools wurden ausgefeilter, User wurden sicherer, Meetings wurden klarer geführt, die Disziplin nahm zu und die Gewohnheit auch. Die methodischen Varianten, die Zuhörenden nicht gleich schon nach 90 Sekunden ins Nirvana oder die Küche gleich neben dem Homeoffice abwandern zulassen, wurden raffinierter.
Die Erkenntnis machte sich breit, dass selbst Kundenmeetings weder jetzt noch in Zukunft nur physisch stattfinden können. Live-Online geht auch für ein Erstgespräch, ohne dass man ein paar Hundert Kilometer durch das Land fahren muss. Das bedeutet aber auch: der nächste Professionalisierungsschritt muss jetzt Einzug halten. Ganz genau wie im Fußballstadion: die ersten beginnen auf der Stehrampe aufzustehen.
Wer mit Kunden über den Kamerakanal spricht, muss jetzt nochmals ein digitales Scheit nachlegen. Hochauflösende Kamera und perfekter Ton sind ,,Must haves’’, genau wie die Stimme, die einen emotionalen Schlüsseleffekt darstellen sollte. Wer darüber gerade erst nachdenkt, wird feststellen, dass andere längst schon in Aktion gekommen sind, eben schnelle aufgestanden sind.
Camera-Acting als nächster Akt
Wie also kann man sich derzeit überhaupt noch abheben, herausstellen, irgendwie besonders gebärden? Was kann man tun, bevor es alle tun? Professionelles Camera-Acting ist die richtige Antwort. Als TV-Moderator lernt man genau das, übt es, trainiert es und erhält gnadenloses Feedback. Ich weiß, wovon ich rede. Camera-Acting ist mir längst in Mark und Bein geflossen…
Was gilt es beim Camera-Acting zu beachten? Die Checkliste gibt Aufschluss:
- Mimik = zentral
- Blick = zentral
- Körperhaltung = zentral
- Körper- und Bildausschnitt = zentral
- Hände = zentral
- Farbe/Bekleidung = zentral
- Sprechtempo, Deutlichkeit = zentral
- Licht = zentral
- Ton = zentral
Die Technik wird allmählich wieder zu dem, wofür sie ursprünglich gedacht war: zum Hilfsmittel, das im Hintergrund bleibt. Dass sich alle sehen, Bilder sichtbar und Stimmen hörbar sind, sogar der Bildschirm geteilt werden kann, gelten heute weder als Wunder noch als Zauberei. Die eigentliche Wirkung wird wieder von dem erzeugt, der im Fokus steht: dem menschlichen Akteur. Die Zeiten sind vorbei, in denen es genügte, geteilte Powerpoint-Slides zu vertonen. Mehr denn je geht es jetzt und zukünftig um die Wirkung des Menschen vor der Kamera.
Aus der Theaterschule
Ein Blick in die Schauspielschule zeigt: Jede kleine, selbst winzigste Handlung ist konkret und hat ein Ziel. Es gibt keinen Schauspieler, der auf der Bühne ,,irgendetwas sucht’’. Er fahndet nach einem verlorenen Schlüssel, er bewundert die Lampe, zählt die Blumen – alles hat ein Ziel und einen Zweck. Die Handlung muss ein eindeutiges Ziel und ein klares Objekt haben. Eine Handlung ist bedeutungslos, wenn sie nicht vollendet oder ohne Zielsetzung ausgeführt wird.
Genau für dieses Ziel muss sich ein Schauspieler begeistern können. Nur mit innerem Engagement für das Ziel ausgeführte Handlungen erzielen die Wirkung, die man beabsichtigt. Der Schauspieler bewundert die Rose, die auf dem Boden liegt. Er hebt sie auf, weil er sie entweder wegwerfen will, dann ist er durch Ordnungssinn motiviert. Oder hat die große Motivation, sämtliche Spuren seiner Ex-Frau zu verwischen. Oder er stellt sie in eine Vase, weil er inneres Feuer für schön gestaltete Räume hat. Das sind Ziel, Wirkung, Motivation, die zur Handlung hinführen und die diese Handlung glaubwürdig machen.
Im Fernsehen und vor der Kamera haben wir den Brennglas-Effekt: Was live gilt, gilt live-online noch mehr. Jeder Mensch wirkt immer – die Frage ist nur wie?!