Der Digitalisierungsstau im deutschen Mittelstand ist groß. Es mangelt nicht am Aufbruchswillen, sehr wohl aber am fehlenden IT-Fachpersonal. Doch statt zu klagen, setzen smarte Firmen zunehmend auf No- oder Low-Code-Angebote, mit denen jeder Beschäftigte auch ohne großes Vorwissen zum Programmierer werden kann. Ist das die Lösung für den deutschen IT-Stau?
Auch durchschnittliche SUVs bestehen heute aus mehr als 100 Millionen Zeilen Software-Code, meldet der deutsche Autozulieferer ZF. In ein paar Jahren könnten es nach Studien der Unternehmensberatung McKinsey bereits mehr als 300 Millionen Zeilen sein. Zum Vergleich: Damit ist bereits das heutige Familienauto mit sieben Mal mehr Zeilen Code ausgestattet als ein Passagierflugzeug, das auf schätzungsweise 15 Millionen Zeilen Code kommt. Ein Passagierflugzeug muss eben auch „nur“ in der Luft fliegen, ein Auto dagegen im Stadtverkehr mit unzähligen internen und externen Systemen korrespondieren, Daten erfassen und verarbeiten.
Eklatanter Mangel an IT-Fachkräften
Das Auto-Beispiel im Auto-Land Deutschland zeigt eines ganz deutlich: Die Digitalisierung erfasst im rasenden Tempo eine Branche nach der anderen, verändert Prozesse, Produkte und ganze Geschäftsprozesse. Deutsche Konzerne und Mittelständler haben den Handlungsdruck verstanden und wollen die notwendigen Veränderungen auch angehen. Einzig: Es fehlt vielerorts an Personal, um die IT-Aufgaben und vor allem die notwendige Programmierarbeit zu erledigen. Ende Dezember 2023 schlug der Digitalwirtschaftsverband Bitkom Alarm – und das zum wiederholten Male: „Der Mangel an IT-Fachkräften verschärft sich weiter. In den deutschen Unternehmen sind aktuell 149.000 Stellen für IT-Expertinnen und -Experten unbesetzt. Das sind noch einmal 12.000 mehr als vor einem Jahr, als 137.000 Stellen offen waren.“
Bitkom-Präsident Ralf Wintergerst: „Der Mangel an IT-Fachkräften besteht in Deutschland unabhängig von Konjunkturzyklen und ist ein systemisches Problem der deutschen Wirtschaft. Zu wenig Fachkräfte und zu viel Regulierung bremsen das digitale Deutschland.“ Schnelle Abhilfe vonseiten der Universitäten und Hochschulen ist nicht zu erwarten. Im Gegenteil: Die Zahl der Studentinnen und Studenten im Fach Informatik und verwandten, ebenso anspruchsvollen Studiengängen geht eher zurück. Auch das gezielte Anwerben ausländischer Spezialistinnen und Spezialisten läuft – obwohl die rechtlichen Grundlagen dafür durch die Politik längst geschaffen wurden – eher schleppend. Deutschlands Ruf in der Welt hat gelitten. Die Expertinnen und Experten etwa aus Fernost schlagen lieber eine Karriere andernorts, etwa in den USA, ein.
No-Code-Lösungen machen aus „Citizens“ echte „Developer“
Was tun? Die Lösung könnte näherliegen, als mancher klagende Mittelständler heute vielleicht denken mag. Die Lösung könnte im bestehenden eigenen Personal zu finden sein. Möglich macht das die steigende Zahl von Low- und No-Code-Plattformen. No-Code bedeutet übersetzt „kein Code“. Es bedarf dabei also keinerlei Programmierkenntnisse, um eigene Apps zu erstellen, mit denen dann bestimmte Prozessabläufe etwa im Unternehmen optimiert, verkürzt und verbilligt werden können. Die No-Code-Plattformen stellen dabei eine Art grafische Benutzeroberfläche, die es möglich macht, die Software-Anwendungen oder Apps wie mit einem Baukasten zusammenzusetzen.
Dagegen erfordern Low-Code-Lösungen etwas Basis-Programmieraufwand. Doch der hält sich in Grenzen und lässt sich in kurzen Schulungen antrainieren. Ein jahreslanges Informatikstudium ist auch hierfür nicht nötig. Der Lohn der etwas größeren Mühe: Nutzer müssen keine vorgefertigten Module verwenden, sondern können etwas individueller konfigurieren.
„Wenn ich weiter digitalisieren will, habe ich gar keine andere Wahl, als vorhandene Mitarbeiter zu befähigen und so das Zepter selbst in die Hand zu nehmen. Dies reduziert die Abhängigkeit von einer begrenzten Anzahl von hoch qualifizierten Entwicklern und ermöglicht es Unternehmen, Digitalisierungskompetenz ganz breit im Unternehmen zu verankern. Zusätzlich ergeben sich spezifische Vorteile, wie eine höhere Mitarbeiterzufriedenheit und eine stärkere Bindung an das Unternehmen, da Mitarbeiter in die Gestaltung und Entwicklung von Lösungen einbezogen werden“, sagt Sven Pietsch. Er ist Mitbegründer und CEO des IT-Hauses Innoloft mit Sitz in Aachen und hat es sich zur unternehmerischen Aufgabe gemacht, „Citizen Developer“ in ganz Deutschland mit dem nötigen Handwerkszeug auszustatten. „Citizen Developer“ bedeutet: Dank der No-Code-Lösung kann jeder „Citizen“ zum „Developer“ werden – in mittelständischen Unternehmen, aber auch in der öffentlichen Verwaltung.
Verkürzung der Prozessdauer von einem Jahr auf wenige Tage
Sven Pietsch ergänzt: „Die Rolle des Citizen Developers kann in der modernen IT-Landschaft von entscheidender Bedeutung werden, da sie die normalerweise sehr langsamen Digitalisierungsprozesse in deutschen Unternehmen disruptiv beschleunigen kann.“ No-Code-Lösungen könnten vor allem eine innovative Lösung sein, die gefühlt endlose Zeit zwischen dem Entstehen einer Digitalisierungsidee und dem Live-Gang im Unternehmen radikal zu verkürzen. Gerade wenn externe Dienstleister zur Umsetzung eingebunden werden, sind sechs bis zwölf Monate Prozessdauer nach den Worten von Sven Pietsch „eher der Regelfall als die Ausnahme.“ Der IT-Experte: „Mit unserer No-Code-Lösung LoftOS haben wir gezeigt, dass wir diese Entwicklungszeiten auf wenige Tage reduzieren können. Ein Unternehmen, welches zwölf Monate vor der Konkurrenz Kosten sparen oder den Output durch Prozessdigitalisierung erhöhen kann, hat zwangsläufig einen wirtschaftlichen Vorteil. Es geht hier also längst nicht mehr nur um Kosmetik. Es geht um die Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens.“ Wenn von der Digitalisierung des Mittelstands die Rede ist, denken viele spontan an die ganz großen Themen wie Blockchain, Metaverse und künstliche Intelligenz. Doch No- und Low-Code-Anwendungen könnten helfen, erst einmal die naheliegenderen Probleme zu lösen: den immer noch zu hohen Anteil an Papier-Lösungen in Unternehmen oder die Flut an zeitraubenden E-Mails. Sven Pietsch: „Das Gros der Bedarfe in Unternehmen lässt sich mit herkömmlichen Mitteln wie Webseite, Benutzeroberfläche, Datenbank und Login-System vollkommen decken. Diese Funktionalitäten stellen keine Herausforderung mehr für No-Code-Lösungen dar.“ Und das „IT-Personal“, das diesen Wandel auf die Straße bringen kann, ist längst da: Es sind die aktuellen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.