Erfolg wird die Digitalisierung in Deutschland erst haben, wenn wir uns ernsthaft mit ihren motivatorischen Aspekten auseinandersetzen. Ein kritisches Vorwort zu dem Buch „Digital human – Der Mensch im Mittelpunkt der Digitalisierung”.
Eine Erschütterung geht durch die Welt, wie Menschen, die heute arbeiten, sie noch nie erlebt haben. Erschüttert wird ihr Vertrauen in die Zukunft, in ihre eigene Kraft, in ihre Fähigkeit, sich selbst und ihre Familie zu ernähren. Erschüttert wird ihr Bild vom eigenen Wert und vom eigenen Platz in der Gesellschaft. Wenn Anerkennung, Sicherheit und Geborgenheit zentrale Bedürfnisse des Menschen sind, dann erleben viele Menschen gerade in ihnen eine Kränkung. Denn wenn die Digitalisierung wahr macht, was sie androht, dann entzieht sie uns Anerkennung für unser Können, raubt uns die Sicherheit unserer Lebensgrundlage und wirft uns aus der Geborgenheit der mühsam aufgebauten wirtschaftlichen Existenz in das kalte Vakuum immer neuer Fragwürdigkeiten.
Für die meisten Menschen bricht mit der nächsten Entwicklungsstufe der Digitalisierung ein Zeitalter der Verunsicherung an. Bislang kennen sie die Digitalisierung nur als Füllhorn praktischer Gerätschaften wie Smartphones und hilfreicher Programme wie Facebook, Google und Booking.com. Nun aber – in der nächsten Stufe – erfahren sie mit einem Mal am eigenen Leib, dass es keine Revolutionen ohne Rückwirkungen auf den Revolutionär gibt, auch keine technischen Revolutionen. Die meisten Menschen werden in ihrer Eigenschaft als Produzenten eingeholt von den Folgen des wirtschaftlichen Umsturzes, den sie als Konsumenten selbst mit ausgelöst haben. Ob diese Revolution ihre Enkel und Urenkel frisst, bleibt noch dahingestellt, doch dass sie ihre Kinder schon zwischen den Zähnen hat, daran besteht kein Zweifel mehr.
»Ihr müsst euch ändern. Ihr müsst die Digitalisierung als Chance annehmen. Ihr müsst den Rückstand aufholen, in den Deutschland sich manövriert hat.« So oder ähnlich lauten die vielen Appelle, die Mitarbeitern heute entgegengerufen werden.
Deutschlands unbestreitbare Versäumnisse bei der Digitalisierung münden in das, was der Economist mit Vorsprung durch Panik beschrieben hat: in den Versuch, die Geschwindigkeit durch mutwilligen Ausstoß von Adrenalin zu erhöhen. Wirkung zeigt das bislang kaum. Warum auch? Denn wie wirken diese Appelle auf ihre Empfänger anders als angsteinflößend, verunsichernd und kränkend? In ihrem Kern besagen die Beschwörungen doch nur dies: »Schaffe dich selbst ab, bevor du abgeschafft wirst.« Diese ohnehin nicht sonderlich freundliche Botschaft trifft auf florierenden Handel mit Vollbeschäftigung, Facharbeitermangel, Auslastung an der Kapazitätsgrenze, weltweit als obszön empfundene Exportüberschüsse, null Inflation, eine alternde Bevölkerung, pralle Sparvermögen und vergleichsweise sichere Altersversorgungen.
Die Digitalisierung hat ein Glaubwürdigkeits- und Motivationsproblem. Unglaubwürdig scheint sie, weil alle Räder allem Anschein nach ja auch trotz des deutschen Digital-Rückstands surren. Warum sollte das nicht so bleiben können? Braucht die Welt trotz aller digitalen Plattformen nicht immer weiter physische Güter und warum sollten wir sie nicht produzieren? Lasst Amerika und China doch die digitale Welt, solange wir in Deutschland die physische so erfolgreich beliefern. Und demotivierend wirken die Aufrufe zur Digitalisierung, weil sie keinerlei positive Anreize setzen und nichts zu gewinnen versprechen, stattdessen sich in vagen Endzeit-Prophezeiungen ergehen und vom Ende der Welt fabulieren, so wie wir sie heute kennen. Wer sowieso wenig von Digitalisierung versteht, warum sollte er dieser schlecht gelaunten Kassandra in die Arme fallen? Warum sollte sich irgendjemand zum digitalen Pionier aufschwingen, wenn viele anderen Optionen weit besseren Lohn versprechen und wenn die sichere Rente sowieso einen sorgenfreien Austritt aus dem gefährlichen Spiel in Aussicht stellt?
Den Menschen in den Mittelpunkt stellen
Erfolg wird die Digitalisierung in Deutschland erst haben, wenn wir uns ernsthaft mit ihren motivatorischen Aspekten auseinandersetzen. Wenn wir beginnen, uns zu fragen, wie sie auf die Menschen wirkt, und wenn wir Verheißungen formulieren, dort wo heute nur von Verdammnis gesprochen wird. »Dein Beruf verschwindet. Mache dir das endlich klar und wehre dich« – mit solchen Aussagen werden wir niemanden zum freudigen Aufbruch bewegen. Was soll der Taxifahrer denn tun, dem selbstfahrende Limousinen die Kunden abluchsen werden? Die wütende Sternfahrt gegen Uber, der blockierende Lobbyismus seiner Berufsverbände sind keine irrationalen, sondern höchst logische Reaktionen auf das Narrativ, das ihm entgegengehalten wird. Was erwarten wir von der Kassiererin im Supermarkt, die in den Nachrichten erfährt, dass bald niemand sie mehr braucht, und dem Bandarbeiter in der Autofabrik, der allerorten hört, dass Elektroautos weit weniger Komponenten benötigen und somit mit einem Bruchteil des Personals zu montieren sind? Dass sie kreative Mitarbeiter der »Projektgruppe Digitalisierung« werden und die Axt munter in ihre Lebensgrundlage schlagen?
Viel vernünftiger ist es für sie, das Erreichte zu verteidigen, Gewerkschaften mit der Wahrnehmung ihrer Rechte zu beauftragen, Rationalisierungsschutz-Vereinbarungen zu verhandeln und die Gunst des Personalmangels dafür zu nutzen, der Kapitalseite ihres Unternehmens Garantien für möglichst viele Jahre abzuhandeln, was nichts anderes bedeutet als der Digitalisierung, sprich: der Weg-Digitalisierung ihres Arbeitsplatzes, möglichst viele Brocken in den Weg zu legen.
Den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, was sich ja immer leichter sagt als tut, bedeutet nichts anderes, als die Bedürfnisse der Menschen zu beachten und zu erfüllen: Anerkennung, Sicherheit und Geborgenheit zu spenden statt zu entziehen. Jedes Unternehmen, das sich digital transformieren möchte, muss eine Antwort auf folgende Frage finden: Wie kann Digitalisierung dazu beitragen, die Anerkennung seiner Mitarbeiter zu steigern, ihre Sicherheit zu erhöhen und ein Gefühl der Geborgenheit zu vermitteln, wo überall vom Gegenteil die Rede ist?
Das Faszinierende an der Digitalisierung ist der Überschwang an Möglichkeiten, der in ihr steckt. Digitalisierung revolutioniert die Welt gerade deshalb, weil sie das Unmögliche möglich macht. Drehen wir das Spiel also eine Umdrehung weiter und fragen nicht mehr nur: Wie können wir mit digitaler Technik noch besser rationalisieren? Sondern fragen wir: Wie können wir die Menschen mit Digitalisierung noch glücklicher machen? Dabei werden wir feststellen, dass vermeintliche Widerspruche verschwinden und dass das im Industriezeitalter noch Unvereinbare im Digitalzeitalter plötzlich miteinander zu verschmelzen beginnt: die Senkung von Kosten mit der Steigerung des Wohlbefindens der produzierenden Menschen durch Anerkennung, Sicherheit und Geborgenheit.
Davon handelt das Buch „Digital human – Der Mensch im Mittelpunkt der Digitalisierung” von Bettina Volkens und Kai Anderson, erschien im November 2017 im Campus Verlag: Wie dieses Programm am besten zu bewerkstelligen sei. Deutschland kann ein Vorbild der digitalen Transformation werden, wenn wir der Welt als Erste zeigen, wie die digitale Revolution ihre Kinder hütet und ernährt, anstatt sie einfach nur zu fressen.
Christoph Keese, geschäftsführender Gesellschafter, Axel Springer hy
Christoph Keese, Jahrgang 1964, ist geschäftsführender Gesellschafter der Axel Springer hy GmbH in Berlin, einer Tochtergesellschaft des Medienunternehmens, die Firmen bei der digitalen Transformation hilft. Zuvor war Keese Executive Vice President bei Axel Springer und maßgeblich am digitalen Wandel des Konzerns beteiligt. Der Journalist und Wirtschaftswissenschaftler ist Autor der Bestseller Silicon Valley – Was aus dem mächtigsten Tal der Welt auf uns zukommt (2014) und Silicon Germany – Wie wir die digitale Transformation schaffen (2016).