Serie Teil 7/10

Dematerialisierung: Liberté, Egalité, Agilité

Beweglich bleiben in Zeiten des digitalen Darwinismus: Nur mit agilen Strukturen können Unternehmen auf die Anforderungen digitalisierter Märkte reagieren. Um die Agilität ranken sich jedoch so viele Mythen, dass eine bodenständige Interpretation überfällig erscheint.

Der Begriff der Agilität taucht überall dort auf, wo die Zukunft eines Unternehmens verhandelt wird. Ob in Analystenkonferenzen, in Firmenpräsentationen, in Team- und Mitarbeiterbesprechungen – ohne einen Verweis auf agiles Management kommt kaum ein Manager aus. Der Gebrauch erfolgt so inflationär, dass die Agilität schon wieder im Verdacht steht, lediglich eine Managementmode zu sein, mit der Berater viel Geld verdienen. Erschwerend kommt hinzu, dass viele, die die Fahne der Agilität schwenken, eines versäumen: die Substanz hinter dem Wort offenzulegen. Doch das Konzept der Agilität darf nicht zu einem Schlagwort im „Bullshit Bingo“ verkommen, nicht leichtfertig vorgeschoben oder verheizt werden.

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Ohne Agilität ist die digitale Zukunft nicht zu gewinnen. Der exponentielle Leistungszuwachs der IT greift. Die Innovationsgeschwindigkeit nimmt stetig zu. Digitale Technologien wie die Künstliche Intelligenz oder die Robotik treten in direkte Konkurrenz zu den Menschen. Mit dem Internet der Dinge entsteht die neue Infrastruktur des Wohlstands. Getrieben durch die Digitalisierung tendieren die Grenzkosten gegen null. Dieser Effekt senkt die Barrieren zum Markteintritt und ruft neue Wettbewerber auf den Plan, die daten- und softwaregetrieben die Märkte aufmischen. Dazu zählen Start-ups ebenso wie etablierte Unternehmen, die in neue Branchen eindringen. Wir bekommen keine Industrie 4.0, sondern eine Wirtschaft 4.0, in der alte Claims und Hoheitsgebiete nichts mehr zählen. Drei Trends kennzeichnen diese neue Wirtschaft:

  • Disintermediation: Wenn jeder mit jedem kommunizieren und Geschäftsbeziehungen führen kann, werden die Intermediäre, die Mittelsmänner, überflüssig. Großhändler zum Beispiel, aber auch Banken. Insbesondere die Blockchain als Protokoll des Vertrauens wird direkte Geschäfte und Transaktionen („Peer-to-Peer“) fördern.
     
  • Disaggregation: Bestandteile zerlegt und als Services neu verpackt. Der Kunde von morgen kauft kein Auto mehr, sondern Mobilität. Er interessiert sich nicht für ein Smartphone, sondern für bessere Kommunikation. Er bucht kein Hotel, sondern Erholung und Erlebnisse. 
     
  • Dematerialisierung: Immer mehr physische Produkte verwandeln sich in Software und Apps. Ganze Wertschöpfungsketten lösen sich in diesem Prozess auf. Fabriken, Maschinen, Arbeitsplätze werden nicht mehr benötigt. Sie gehen auf Nimmerwiedersehen verloren.

Unflexibel und starr – läuft doch!

Die entscheidende Frage ist nicht, wie Unternehmen technologisch auf diese neue Marktrealität reagieren, sondern mit welcher Kultur und welcher Haltung. Halten sie an Silos fest, Geschäftsbereichen und Abteilungen also, die nebeneinander her existieren und nicht kooperieren? Führen sie weiter Profitcenter, die nur sich selbst optimieren, aber kaum zum Wohle des Gesamtunternehmens zusammenarbeiten? Sanktionieren sie weiter Fehler und halten damit ihre Mitarbeiter klein? Arbeiten sie stur auf das perfekte Produkt hin und verkennen dabei, dass Flexibilität und ergebnisoffene Prozesse heute zu einem erfolgreichen Innovationsbesteck gehören? Pflegen sie ihre Hierarchie und lassen damit zu, dass sich das Wissen, die Ideen und die Erfahrung ihrer Mitarbeiter nicht entfalten können?

In vielen Fällen lautet die Antwort auf diese Fragen leider „Ja“. Strukturen, die sich in Jahrzehnten verfestigt haben, bestehen in vielen Firmen weiter. Paradoxerweise erweisen sich viele Firmen als unfl exibel, weil sie enorm erfolgreich sind. Läuft doch! Die deutsche Wirtschaft brummt! Made in Germany – ein Gütesiegel!

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Die selbstzufriedenen Manager übersehen dabei, dass in den Märkten längst ein evolutionärer Ausleseprozess abläuft, verursacht durch veränderte Kundenbedürfnisse und technologischen Fortschritt. Wer nicht auf der Höhe der Zeit ist, fällt dem „Digitalen Darwinismus“ zum Opfer und aus dem Markt. Wie in der Natur überleben aber nicht die Stärksten und Größten, sondern die Unternehmen, die sich rasch anpassen können. Deshalb ist Agilität grundsätzlich wichtig.


Lesen Sie auch die anderen Beiträge der Serie „Dematerialisierung“:

Teil 1: Dematerialisierung – Die Neuverteilung der Welt

Teil 2: Dematerialisierung – Die neue Infrastruktur des Wohlstands

Teil 3: Dematerialisierung – Willkommen, KI!

Teil 4: Dematerialisierung: Blockchain – das Betriebssystem der vernetzten Welt
Teil 5: Dematerialisierung: Sharing Economy – Teilen ist das neue Haben
Teil 6: Dematerialisierung: Die Digitalisierung rauscht noch an den Bilanzen vorbei
Teil 7: Dematerialisierung: Liberté, Egalité, Agilité


Agilität

Doch Agilität gibt es weder auf Rezept noch auf Kommando. Sie ist kein Managementtool und lässt sich auch nicht auf agile Methoden wie „Design Thinking“ oder „Scrum“ reduzieren. Agilität ist eine Eigenschaft, die Menschen und Organisationen kennzeichnet. Der Begriff geht auf das lateinische „agilitas“ zurück, und ist im 16. Jahrhundert in Form des französischen „agilité“ in den deutschen Sprachraum gesickert. Agilität steht für Gewandtheit und Beweglichkeit. Das Adjektiv „agil“ meint „körperlich wie geistig beweglich und wendig“. Damit ist Agilität Ausdruck der Unternehmenskultur, die in diesen Sinne entwickelt und gefördert werden muss.

In einer gemeinsamen Studie, deren erste Ergebnisse jetzt vorliegen, gehen die Personalberatung Kornferry und die Strategie- und Transformationsberatung neuland.digital von sechs konkreten Faktoren der Agilität aus:

  1. Risiken wagen
  2. schnell entscheiden
  3. aus Fehlern lernen
  4. auf Kundenwünsche eingehen
  5. übergreifend zusammenarbeiten
  6. alle Mitarbeiter einbeziehen

Kornferry und neuland.digital geht es darum, den Begriff der Agilität zu entmystifi zieren, von Missverständnissen zu befreien und für die Unternehmen operationalisierbar zu machen. Erste Ergebnisse der Studie zeigen, dass sich dieses Sextett der Agilität messbar positiv auf den Unternehmenserfolg auswirkt. Allerdings tragen nicht alle Faktoren in gleichem Maße zum Erfolg bei. Als entscheidend und besonders vielversprechend entpuppt sich die Fähigkeit von Unternehmen, aktiv und fl exibel auf Kundenwünsche zu reagieren.

Dieses Ergebnis deckt sich mit der Entwicklung des Kundenverhaltens. Der Verbraucher wandelt sich zum „Instant Consumer“, der seine individuellen Ansprüche an Dienstleister und Einzelhändler beständig steigert. Er möchte ohne Rücksicht auf Zeit, Ort und Kanal einkaufen, erwartet einen individuellen Service, personalisierte Leistungen und einen verantwortungsvollen Umgang mit seinen Daten. Diesem modernen Konsumenten können Unternehmen nur mit agilen, selbstwirksamen und flexibel agierenden Mitarbeitern gerecht werden.

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Empfindung vs. Realität

Im Business-to-Business-Geschäft stellt sich die Lage kaum anders dar: In der Wirtschaft 4.0 geht es um flexible oder gar individualisierte Produktion, Anpassung an Kundenwünsche, modulare Service- und Produktpakete sowie datengetriebene Geschäftsmodelle. Die Nachfrage nach Standardangeboten aus dem Katalog nimmt ab, der Bedarf an spezifischen Lösungen, Kleinserien oder Einzelprodukten zu. Auch hier gilt: Ohne agile Strukturen, ohne selbstbewusste und mit den notwenigen Kompetenzen und Freiheiten ausgestattete Mitarbeiter lassen sich die Anforderungen im B2B nicht mehr bewältigen.

Doch viele Unternehmen tun sich noch schwer, Agilität als Teil ihrer Kultur zu etablieren. Die Signale aus der Studie klingen beunruhigend. So attestieren fast 60 Prozent der Führungskr.fte ihren Unternehmen erhebliche Bemühungen in der Digitalisierung. Diese Sichtweise können aber nur 26 Prozent der Mitarbeiter teilen. Solche Zahlen weisen darauf hin, dass es irgendwo in der Hierarchie einen Bruch gibt. Kornferry und neuland.digital vermuten, dass Digitalisierung und Agilität im mittleren Management stecken bleiben.

Dafür kann es mehrere Gründe geben. Wenn Agilität ein Lippenbekenntnis der Chefetage bleibt und die Strukturen und Prozesse eines Unternehmens nicht flexibilisiert werden, kann sie ihre positive Wirkung nicht entfalten. Gleiches gilt, wenn Agilität zwar verordnet wird, die Mitarbeiter und Führungskr.fte aber weder geschult noch mit den notwendigen Freiheiten ausgestattet werden. Ein dritter Hemmschuh: unklare Prozesse. Auch agiles Arbeiten benötigt eine Struktur. Verantwortlichkeiten und Projektmanagement müssen geklärt werden. Vor allem bedarf es nachvollziehbarer Abläufe, in denen festgelegt wird, wie unternehmerische Entscheidungen getroffen werden. Agilität braucht Verlässlichkeit.

Der wichtigste Punkt

Im Mittelpunkt steht immer der Mensch. Agilität ist kein Selbstzweck. Sie dient dazu, die Arbeit der Organisation und der Mitarbeiter für die digitalisierte, vernetzte und automatisierte Wirtschaft zu optimieren. Die Arbeit vieler Mitarbeiter wird geprägt durch „dürfen“ und „können“. Wo sich diese beiden Faktoren treffen, entsteht eine bestimmte Leistung. Aber stellt sie auch das Beste dar, wozu die Mitarbeiter imstande sind? Wohl kaum. Spitzenleistung bedingt, dass die Menschen etwas wirklich wollen, dass sie motiviert sind, Gestaltungsspielräume spüren und ernstgenommen werden. Wenn Unternehmen ihren Mitarbeitern diese innere Freiheit vermitteln, befinden sie sich auf dem besten Weg zu einer agilen Kultur.

Karl-Heinz LandKarl-Heinz Land ist Digital Evangelist und Gründer der Strategie- und Transformationsberatung neuland sowie Sprecher der Initiative Deutschland Digital (IDD).

www.neuland.digital

 

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