Beim Stichwort Digitalisierung kommen vielen Menschen erst einmal das eigene Smartphone, smarte Kühlschränke und selbstfahrende Autos in den Sinn. Doch auch der menschliche Körper kann Träger digitaler Innovationen sein, beispielsweise bei Kontaktlinsen für Augmented Reality, Mikrochips unter der Haut als Frühwarnsystem bei Krankheiten oder als Zahlungsmöglichkeit. Dipl.-Wirt.-Ing. Hartwin Maas, Gründer des Instituts für Generationenforschung, gibt einen Einblick in die Zukunft.
Was kommt nach dem Smartphone? Welche Innovationen haben die Chance, sich durchzusetzen, und warum?
Dipl.-Wirt.-Ing. Hartwin Maas: Zunächst wird das Handy beispielsweise mit Smartwatches und Smartglasses ergänzt werden – die Entwicklung hat ja bereits begonnen. Tatsächlich ist das mobile Telefon bezogen auf seine Funktionen bereits ausgereizt: Kameras, Akkus und Displays werden sich zwar verbessern, doch große Konzerne wie Apple und Nokia gehen davon aus, dass keine entscheidenden Neuerungen entwickelt werden. Außerdem wird die Technik immer intuitiver und integrierter. Das heißt, dass Userinnen und User in Zukunft weniger eingeben und weniger Klicks benötigen, bis sie ihr Ziel erreicht haben. Die Technik wird die Gewohnheiten und Eigenheiten von Nutzerinnen und Nutzer lernen und Gefühlslagen und Wünsche antizipieren. Sie wird viel mehr Entscheidungen abnehmen (müssen), da Konsumentinnen und Konsumenten mit der Komplexität der immer größer werdenden digitalen Welt und ihren Optionen überfordert sein werden. Zukünftig wird es vielmehr um Kundenerlebnisse gehen. Das sehen wir schon jetzt an der zunehmenden Begeisterung über immersive Erfahrungen. Immersive Erfahrungen beschreiben das Eintauchen in eine virtuelle Umgebung, was Menschen als Erweiterung ihrer Realität wahrnehmen. Technologien wie AR, VR oder Mixed Reality können die Realität erweitern oder uns in eine wünschenswertere Alternative entkommen lassen. Ein solches Erlebnis ermöglicht das Metaverse. Übrigens ein interessantes Gedankenexperiment, denn wenn man es weiterspinnt, könnte sich eine junge Generation ihre Welt so bauen, wie sie ihr gefällt. Im Metaverse kann beispielsweise der eigene Avatar Dinge tun, die in der realen Welt nicht möglich sind. Darüber hinaus sind folgende Entwicklungen sehr vielversprechend: Hyperautomation wird dafür sorgen, dass wir zukünftig einen digitalen Assistenten haben können, der uns den Alltag erleichtert. Eine weitere Entwicklung ist ein digitales Alter Ego, quasi ein digitaler Zwilling, der viele Informationen von uns hat. Mit diesen Informationen kann er berechnen, wie wir uns verhalten oder was wir in Zukunft brauchen werden. Zum Beispiel könnte ein Politiker als Avatar oder Hologramm an mehreren Kongressen auf der Welt gleichzeitig auftreten, und das in der jeweiligen Landessprache. Digitale Zwillinge oder Mehrlinge gibt es auch von Maschinen, Prozessen und ganzen Systemen. Sie sind Kopien von etwas Realem. So kann zum Beispiel die Infrastruktur einer ganzen Stadt digital dargestellt und können verschiedene Szenarien zur Stadtentwicklung getestet werden. Dauerhafte Mikrochips, Stichwort Human Empowerment, liegen circa nur noch zehn Jahre entfernt in der Zukunft: Mojolense, AR-Kontaktlinse, Neuralink oder Smart Tattoos von Microsoft sind hier nur einige der zahlreichen Möglichkeiten.
In den letzten Jahren ist der menschliche Körper eine immer engere Verbindung mit Technik eingegangen. Künstliche Knie, Stents und Insulinpumpen – wie lautet der nächste Schritt in der Medizin?
Dipl.-Wirt.-Ing. Hartwin Maas: In Zukunft wird sich die Medizin sehr viel mehr auch auf gesunde Menschen fokussieren. Die großen Tech-Firmen, wie beispielsweise Apple, gehen bereits diesen Weg und sammeln schon jetzt fleißig Daten mithilfe der Apple Watch, um dann Fragen zu beantworten wie: Was können Menschen in Bezug auf Ernährung, Bewegung, physische und psychische Belastung und Depressionen tun, damit sie sich noch wohler fühlen, erst gar nicht krank werden? Telemedizin, künstliche Intelligenz und Robotik nehmen stark zu und erzielen einen großen Wissenssprung für das Gesundheitswesen. Auch die Personallücke im Gesundheitswesen schließt sich durch die Unterstützung der Robotik, denn bis 2030 sind mehr als 11,5 % der Weltbevölkerung über 65 Jahre alt.
Bisher sind die Eingriffe medizinischer Natur, gibt es auch andere denkbare Funktionen?
Dipl.-Wirt.-Ing. Hartwin Maas: Die Frage ist, ob nicht medizinische Eingriffe für bestimmte Personengruppen ethisch vertretbar sind, wer diese rechtlich betrachtet durchführen darf und ob sie bezahlbar sind. Aber denkbar ist prinzipiell alles, was den Alltag erleichtert und uns von WLAN und Akkus unabhängig macht. 30 Millionen Menschen in Deutschland sind über 55 Jahre alt – Tendenz steigend, wodurch immer mehr Seniorinnen und Senioren länger am Leben teilhaben werden. Denkbar sind Bezahlsysteme über Fingerringe, Eingabesystemen für Menschen mit Sehschwächen, Parkinson oder Alzheimer. Hierin steckt auch eine große Chance für Menschen mit Benachteiligungen: Menschen mit Parkinson-Erkrankungen können beispielsweise keine EC-Automaten bedienen. Die neue Technik wird ihnen auf alternative Weise einen Zugang verschaffen.
Besteht in der Bevölkerung denn überhaupt Interesse an dieser Entwicklung?
Dipl.-Wirt.-Ing. Hartwin Maas: Ein klares „Jein“. Viele Menschen möchten ihr Leben vereinfachen, denn der gesellschaftliche Druck und die Komplexität der Aufgabenbewältigung für die einzelne Person nehmen zu. Jede Hilfe, die den Alltag erleichtert, wird dankend angenommen, wenn das Kosten-Nutzen-Verhältnis für den Einzelnen passt. Eine unserer Studien ergab, dass 21,9 % der Befragten für „Ich würde abwarten, ob es mir meinen Alltag erheblich erleichtert“ stimmten. Vor allem für medizinische Zwecke ist die Bereitschaft innerhalb der Bevölkerung, sich einen Mikrochip implantieren zu lassen, relativ hoch. 39,9 % der Befragten würden sich einen als Frühwarnsystem, zum Beispiel für Schlaganfälle, einsetzen lassen. Immerhin sehen noch 18 % Möglichkeiten für Ausweise in Mikrochipform und 16,4 % würden den Mikrochip für den alltäglichen Gebrauch, etwa anstatt von Schlüsseln, nutzen.
Was verbinden Sie mit dem Begriff „Biologische Transformation“?
Dipl.-Wirt.-Ing. Hartwin Maas: Darunter verstehe ich das Bestreben, einen Wandel beziehungsweise eine Veränderung mit den Mitteln der Biologie herbeizuführen. Ich verbinde damit auch den Begriff der Bioökonomie. Seit 2005 ist die Bioökonomie in Deutschland intensives Gesprächsthema, diese Diskussion geht dabei in unterschiedliche Richtungen.
Eine Strömung betont die Kreislaufwirtschaft mit dem Versuch, nicht nachwachsende Rohstoffe durch nachwachsende Materialien zu ersetzen, und dann gibt es noch die Strömung der Bionik. Bionik bedeutet, von der Natur zu lernen. Eine weitere ist die Nutzung von biologischen Verfahren, um aus Biomasse höherwertige Produkte herzustellen. Alle Strömungen haben sich dem Ziel einer nachhaltigen Wertschöpfung verschrieben. Die Schwierigkeit liegt meines Erachtens darin, dass ökologisches Wachstum Grenzen hat und nach unserem Verständnis die Ökonomie immer weiterwachsen muss, will sie erfolgreich sein. Diese Aspekte stehen somit im Widerspruch zueinander, Wirtschaft und Wachstum gilt es zu entkoppeln. Beispiele hierfür gibt es bei der Umsetzung von Nachhaltigkeitsprojekten. Die Bioökonomie kann als Transformationskonzept für große Herausforderungen in unserer Gesellschaft verstanden werden.
Wie lange wird es dauern, bis Menschen mit einem implantierten Chip beispielsweise ihren Einkauf bezahlen oder Musik herunterladen?
Dipl.-Wirt.-Ing. Hartwin Maas: Diese Systeme gibt es schon. Ich denke, es gilt dabei, von der Vorstellung Abstand zu nehmen, dass zwangsläufig ein Chip unter die Haut implantiert wird. Um beispielsweise bezahlen zu können, muss ich mich lediglich identifizieren, alle anderen Daten liegen in der Cloud. Der US-Anbieter Eyeverify liest für die Zahlungsanwendung Alipay die Aderstrukturen der Augen aus. Dies funktioniert momentan noch in Verbindung mit einer Smartphone-App.
Ist das eine Entwicklung, die Ihrer Meinung nach Sinn macht? Sollten Menschen diesen Schritt gehen? Falls ja, worin liegen die Vorteile?
Dipl.-Wirt.-Ing. Hartwin Maas: Transhumanistinnen und -humanisten würden behaupten, dass es ignorant wäre, dies nicht zu tun, dass die Humanevolution noch lange nicht am Ende angekommen ist. Dass Menschen sich durch die technischen Entwicklungen wieder auf das Wesentliche konzentrieren können, wird oft als Vorteil verkauft.
Was sind die Herausforderungen für interessierte Unternehmen in der Entwicklung und Vermarktung?
Dipl.-Wirt.-Ing. Hartwin Maas: Neben der Akzeptanz der Bevölkerung sind weitere Herausforderungen die rechtlichen, ethischen und medizinischen Faktoren: Eine unkomplizierte Förderung solcher Projekte gerade bei KMUs in Deutschland ist im Moment noch Zukunftsmusik.
Welche Faktoren müssen gegeben sein, damit die Gesellschaft für digitale Innovationen aufgeschlossener wird?
Dipl.-Wirt.-Ing. Hartwin Maas: Sie müssen einen tatsächlichen Mehrwert bieten, beispielsweise meine Gesundheit fördern. Darüber hinaus sollten sie unkompliziert, authentisch und bezahlbar sein.
Welche Berührungsängste haben die Menschen bei Implantaten? Wie können Unternehmen Vorurteile entkräften?
Dipl.-Wirt.-Ing. Hartwin Maas: Viele Menschen sorgen sich um die Unversehrtheit ihres Körpers. Das Smartphone kann ich weglegen, ich kann selbst entscheiden, wann ich es in die Hand nehme und wann nicht. Bei Wearables, wie zum Beispiel Smartwatches, ist es ähnlich, sie liegen aber bereits direkt auf dem Körper. Bei Implantaten muss eine zusätzliche große Hürde genommen werden: Sie werden Teil meines Körpers und ich kann sie nicht einfach ablegen. Zudem herrscht in Deutschland im weltweiten Vergleich eine hohe Impfskepsis, daher ist es denkbar, dass es ähnliche Skepsis bei Implantaten gibt. Es stellt sich aus diesem Grund die Frage, ob Implantate tatsächlich zweckdienlich sind oder ein Körperkontakt beispielsweise wie bei Smartwatches, Smartglasses, Ringen oder Uhren ausreicht. Vorurteile könnten durch Nutzen und Sicherheit entkräftet werden, zum Beispiel wenn sich die Chance, ein gesünderes, längeres Leben zu haben, erhöht.