Jahrzehntelang war sie nur ein Thema für exklusive wissenschaftliche Zirkel: Künstliche Intelligenz. Jetzt befeuert sie die Automatisierung, durchdringt mehr und mehr den Alltag und stellt die Menschen vor große ethische Fragen. Sie ist Fluch und Segen und zugleich – und wird uns helfen, die Welt zu retten.
Sie hat es wieder getan. Erst hat eine Künstliche Intelligenz 2011 die Spielshow Jeopardy gewonnen. Anfang 2016 schlug sie dann den weltbesten Go-Spieler in einem spektakulären Match. Jetzt ging sie auch aus einem Duell mit einem Meister des komplexen Computerspiels Dota2 siegreich hervor. Keine Frage, Künstliche Intelligenz (KI) entwickelt sich rasend schnell weiter und dringt in Sphären kognitiven Verständnisses vor, die bislang den Menschen vorbehalten waren. Die Wirtschaft macht sich die KI längst zunutze. Versicherungen haben bereits damit begonnen, Schadensfälle und Vertragsangelegenheiten von KI abwickeln zu lassen („Robotic Process Automation“). Einzelhändler verbessern den Kunden- und Beratungsservice, weil sie mit Hilfe von KI plötzlich die unstrukturierten Daten des Social Webs für sich nutzen können. Auch die Medizin hofft auf große Fortschritte. KI kann rasend schnell eine Vielzahl von medizinischen Studien auswerten und Muster in Daten und Bildern erkennen. Solche Fähigkeiten kommen auch in der Industrie 4.0 zum Tragen, um die vorausschauende Wartung von Maschinen und Anlagen („Predictive Maintenance“) zu optimieren. Dies sind nur einige Beispiele, aber sie skizzieren das große Bild, das derzeit in der Öffentlichkeit entsteht: Die KI erobert immer neue Bereiche des Lebens und tritt dabei in Konkurrenz zum Menschen.
Dieser Eindruck stimmt, aber dennoch steckt ein Fehler in diesem Bild, der allzu oft übersehen wird: DIE Künstliche Intelligenz gibt es nicht. Genau genommen ist KI nichts anderes als eine Software-Gattung, die mit Neuronalen Netzwerken und selbstlernenden Algorithmen arbeitet. Sie ist im Speziellen gut und dem Menschen dann durchaus überlegen, aber nicht im Allgemeinen. Ein Mensch kann gleichzeitig ein bemerkenswerter Arzt und begnadeter Go-Spieler sein, und vielleicht zockt er seine Kinder auch noch beim gemeinsamen Videospiel ab. Eine KI kann das (noch) nicht. Sie ist vielleicht darauf programmiert, sich selber im Go-Spielen zu trainieren und wird darin Weltklasse. Jedoch bleiben ihr Fotos von menschlichem Gewebe, in denen sie Tumore identifizieren soll, ein Buch mit sieben Siegeln. Anders gesagt: Von einer „generellen“ Künstlichen Intelligenz kann noch lange keine Rede sein. Und von der gruseligen Vorstellung einer „Singularität“, worunter IT-Utopisten eine zentrale, alles steuernde Instanz im Internet verstehen, ebenfalls nicht. IBM´s kognitives System Watson, das längst von hunderten Unternehmen in aller Welt eingesetzt wird, ist auch kein Superhirn, sondern besteht aus einer Vielzahl verschiedener spezialisierter, extrem leistungsfähiger Programme.
Das ist der reale Status quo, aber er ist bemerkenswert genug. Spezialisten sind den Generalisten immer überlegen, wenn es darum geht, eng umrissene, konkrete Aufgaben zu lösen. Deshalb hoffen Unternehmen zurecht auf innovative Geschäftsmodelle, effizientere Prozesse und sinkende Kosten. Und deshalb treibt die KI schon jetzt den vielfach übersehenen, ja negierten Megatrend der Dematerialisierung. Die Dematerialisierung lässt ganze Wertschöpfungsketten mit ihren Fabriken, Ausstattungen, Büros und Laboren, mit ihren Maschinen und mit ihren Arbeitsplätzen überflüssig werden. Ein Effekt, der sich schon jetzt für die Lieblingsindustrie der Deutschen, den Automobilbau, abzeichnet. Das Internet der Dinge, die Share Economy und die KI werden Mobilitätssysteme hervorbringen, die mit Millionen weniger Autos auskommen, als derzeit in den Garagen oder Straßenrand stehen (das tun sie nämlich meistens). Absehbar ist auch, um noch ein Beispiel zu nennen, dass die KI in Form selbstlernender Systeme die meisten Bürotätigkeiten übernehmen wird. Nicht nur die einfachen, sondern auch die komplexen Aufgaben der Buchhalter, Steuerberater und letztlich auch der Wirtschaftsprüfer.
KI lässt den im industriellen System tief verankerten Drang zur Automatisierung geradezu explodieren und wird Millionen Jobs kosten. Das klingt bedrohlich? Das ist es auch. Sogar für die „Millennials“, jene digital native Nachwuchsgeneration, die laut einer aktuellen Umfrage von Gallup gar nicht so schnell in die guten Positionen hineinwachsen kann, wie diese durch KI und Automatisierung ersetzt werden dürften. 37 Prozent ihrer Jobs stehen im Risiko, durch KI verdrängt zu werden, während es bei den älteren Arbeitnehmern „nur“ 32 Prozent sind. Aber letzten Endes ist nicht der Fortschritt der Technologie das Problem, sondern die Trägheit der Gesellschaft. Wir bereiten uns auf die digitale Zeit nicht ausreichend vor. Für eine Welt ohne Arbeit brauchen wir neue Konzepte, Ideen und Visionen für unser Zusammenleben. Das bedingungslose Grundeinkommen ist eines davon. Aber das ist ein Thema für einen späteren Teil dieser Serie.
Vielleicht verstehen Deutschlands Politiker nicht, dass die Welt derzeit neu verteilt wird. Oder sie trauen sich nur nicht, die gravierenden Folgen der Digitalisierung gegenüber den Bürgern offen auszusprechen. Die Bevölkerung formuliert hingegen klar, welche Hoffnungen und Gefahren sie mit der KI verbindet. Die Mehrheit der Deutschen verspricht sich von KI vor allem Hilfe (77 Prozent) und Zeitersparnis (72 Prozent) im Alltag, wo die KI mittels Smartphone, Smart Home und Sprachassistenten wie Amazons Alexa oder Google Echo ja auch angekommen ist. 70 Prozent hoffen, dass sie sich im Job auf sinnvolle Tätigkeiten konzentrieren können. Gleichzeitig trauen die Menschen der KI eine hohe Kompetenz beim Lösen von Problem zu, etwa in den Bereichen Cybersicherheit (49 Prozent), saubere Energie und Klimawandel (45 Prozent) oder beim Schutz vor Krankheiten (43 Prozent). 58 Prozent stimmen der Aussagen zu, KI werde die Folgen des demografischen Wandels abfedern und die Pflege verbessern. Immerhin 51 Prozent glauben, dass die KI dazu beitragen wird, komplexe gesellschaftliche Probleme zu lösen. Aber: Dass die KI mehr Arbeitsplätze schaffen als vernichten wird, erwarten nur 35 Prozent der mehr als 1000 von PricewaterhouseCoopers befragten Bürger. Sie werden recht behalten: Der Arbeitsplatzsaldo der Digitalisierung wird deutlich negativ sein.
Wir wissen nicht, wie es mit der Künstlichen Intelligenz von hier aus weitergeht. Doch das Ergebnis wird außerordentlich sein, soviel steht fest. Denn es gibt einen Treiber in der Digitalisierung, der erst jetzt beginnt, seine Leistungskraft wirklich zu entfalten: die Exponentialität. Sie liegt darin begründet, dass sich die Geschwindigkeit der Computer alle anderthalb bis zwei Jahre verdoppelt („Moores Gesetz“). Durch die Kombination von Rechenleistung in der Cloud und künftige cyber-biologische Systeme wird diese Entwicklung noch weiter beschleunig. Das Trickige an dieser exponentiellen Funktion ist, dass über Jahrzehnte die Leistungskurve nur langsam ansteigt. So gesehen sind heutige Computer mit modernen i7-Prozessoren von Intel gar nicht so viel schneller als ein Commodore C64 aus den 1980-er Jahren. Aber in einer exponentiellen Funktion kommt unweigerlich der Punkt, an dem der Leistungsgraph steil nach oben schießt. An diesem Punkt und vor dieser Explosion stehen wir jetzt; die Technologieforscher Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee haben diesen Effekt in ihrem weltweiten Bestseller „The Second Machine Age“ treffend beschrieben. Eine Pflichtlektüre. Die Exponentialität erklärt auch, warum viele Digitaltechnologien in wenigen Jahren und nahezu gleichzeitig riesige Entwicklungssprünge gemacht haben, sei es der 3D-Druck, die Robotik, das Internet der Dinge und eben die Künstliche Intelligenz.
Dass der Einzug der KI in unser aller Leben durchaus ambivalent gesehen kann, zeigen die leidenschaftlichen Debatten darüber. Elon Musk, als Gründer und Vordenker von Tesla nicht gerade ein Technikpessimist, hat die KI als größte Bedrohung der Zivilisation bezeichnet. Facebook-Boss Mark Zuckerberg konterte, wer sich gegen KI ausspreche, sei auch gegen sicherere Autos und Fortschritte in der Medizin. Pikanterweise entschloss sich Facebook in etwa zur gleichen Zeit, ein Experiment zur KI abzubrechen: Zwei künstliche Intelligenzen begannen, in einer eigenen Sprache miteinander zu kommunizieren, der die Forscher nicht mehr folgen konnten. Es ist diese berechtigte Angst, dass sich die KI verselbständigen könnte, die der Debatte innewohnt. KI ist die eine Technologie in der Geschichte der Menschheit, die sich irgendwann unserer Kontrolle entziehen könnte. Und ich will mir gar nicht vorstellen, was KI in Händen durchgeknallter Terroristen oder größenwahnsinniger Militärs anrichten kann.
Keine Frage: Es ist zwingend notwendig, dass über die Ethik automatisierter Systeme diskutiert wird. Nach welchen Kriterien entscheiden sie zum Vorteil oder Nachteil von Menschen, im Zweifel über Leben und Tod? Wo verläuft die rote Linie, die bei der Weiterentwicklung der KI nicht überschritten werden darf? Wir müssen die Technologie beherrschen, nicht sie uns. Immer. Nur wenn wir die Gestaltungshoheit wahren, können wir das Potenzial der KI wirklich nutzen und das Leben auf diesem Planeten verbessern. KI wird für deutliche Fortschritte im Kampf gegen Hunger und gegen Krankheiten sorgen. Sie wird dabei helfen, Mobilität effizient zu organisieren und Städte zu lebenswerteren Orten zu machen. KI unterstützt uns darin, das Klima zu retten und die Bildung zu revolutionieren. Das klingt Ihnen zu gewagt, zu optimistisch oder gar utopisch? Finde ich nicht. Digitale Technologien wie die KI erlauben uns, groß zu denken. Wagen wir es!
Ihr
Karl-Heinz Land ist Digital Evangelist und Gründer der Strategie- und Transformationsberatung neuland Sprecher der Initiative Deutschland Digital (IDD).