Wer ein komplettes digitales Abbild seiner Unternehmens-IT-Infrastruktur hat, kann dieses für Planungsszenarien, Belastungstests und als Basis für Modernisierungen verwenden. Dabei ist es egal, ob es sich um lokale oder Cloud- bzw. hybride Infrastrukturen handelt. Was sollten Unternehmen auf dem Weg zum digitalen Zwilling und bei dessen Nutzung besonders beachten?
Die meisten Unternehmen haben irgendeine Form der IT-Dokumentation. Das können im schlimmsten Fall noch Zettel in Leitzordnern, vereinzelte Excel-Dateien oder eine selbstentwickelte Datenbank sein. In der Regel ist das Thema „IT-Dokumentation“ eher unbeliebt. Sie macht viel Arbeit und wird selten effizient genutzt; die Aktualisierung ist ein Graus. Rivalisierende Abteilungen tauschen sich nicht aus, jeder „sitzt“ auf seiner Dokumentation und möchte sich auch nicht hineinreden lassen. Der Nutzen ist begrenzt – genauso wie die Begeisterung.
Das liegt auch daran, dass die Verantwortlichen nur selten die enormen Business-Potenziale und Chancen sehen, die eine verlässliche, aktuelle Dokumentation der IT-Infrastruktur eröffnet. Stellen Sie sich vor, sie haben ein vollständiges Abbild ihrer Rechenzentren, angefangen vom Satellitenblick auf die Standorte, den Röntgenblick durch die Gebäude, die physischen Kabelverbindungen, Stromverbräuche, Luftströme, logischen Abhängigkeiten der Software-Stacks, Cloud-Dienste und hybriden Anwendungen. Sie können mit einem Klick das Gebäude oder einzelne Racks in einer 3D-Ansicht visualisieren und sehen, wie Ihre IT funktioniert und wie die Komponenten zusammenwirken. Eine moderne IT-Dokumentation erfasst die gesamte Infrastruktur: alle physischen und logischen Assets in Form von Campusstrukturen, jegliche Art von Hardware von der Arbeitsplatzumgebung über die Netzwerkverbindungen bis hin zur kompletten RZ-Ausstattung, alle virtualisierten Infrastrukturbestandteile sowie den gesamten Softwarebestand.
Vollständiger Durchblick als Startpunkt
Nur wenn die vorhandene physische, logische und virtuelle Unternehmensinfrastruktur dauerhaft mit dem digitalen Abbild synchronisiert ist, spricht man von einem digitalen Zwilling (englisch: Digital Twin). Das Ziel eines solchen ist es, den Zustand des Objekts, das er nachbildet, besser zu verstehen, Veränderungen vorab auf ihre Auswirkungen hin einschätzen zu können und durch ein reibungsloses Changemanagement einen Mehrwert zu schaffen. Er fungiert als Spiegel, um das Verhalten seines realen Gegenstücks zu simulieren und vorherzusagen. Der digitale Zwilling ist quasi lebendig – im Gegensatz zu einer Dokumentation auf Papier oder in Excellisten. Änderungen an der realen Infrastruktur spiegeln sich sofort im Zwilling wider.
Einerseits liefert die digitale Kopie tiefe Einblicke in den Status Quo der Infrastruktur. Sie können also jederzeit ablesen, wo noch Kapazitäten frei sind (räumlich in Form von Stellflächen und Höheneinheiten, für die Stromversorgung, bei der Kühlung oder der Netzwerkanbindung). Andererseits kann der Zwilling auch Prognosen abgeben, wo sich in nächster Zeit Engstellen entwickeln werden und jetzt schon Handlungsbedarf besteht – beispielsweise könnte der fortschreitende Serverausbau die Stromversorgung oder die Klimaanlage überlasten. Der digitale Zwilling liefert auch eine komplette Übersicht über alle Netzwerkverbindungen und die damit in Zusammenhang stehenden Ressourcen wie zum Beispiel die freien Port-Kapazitäten. IT-Verantwortliche können mit diesen Daten den Betrieb optimieren, die Performance verbessern und gleichzeitig Kosten sparen.
Bild 1: Die Dokumentation einer Infrastruktur sollte alle Ebenen vom Gebäude bis zum Business Service umfassen und zusätzlich alle Abhängigkeiten darstellen.
Planungsszenarien durchspielen
Der größte Nutzwert ergibt sich aber aus den Möglichkeiten, mit dem digitalen Zwilling nicht nur den Status Quo zu optimieren und die kleinen, inkrementellen Veränderungen im operativen Alltagsbetrieb zu begleiten, sondern auch eine mögliche Anpassung vorab zu simulieren. So kann der Ausbau von Serverkapazitäten durchgespielt oder die Verlagerung von Rechenleistung in ein Edge-Datacenter getestet werden. Dabei kann die Simulation aufzeigen, ob die Kühlungsleistung ausreicht, genügend Platz für die Kabelstränge vorhanden ist und genug Switches mit freien Ports zur Verfügung stehen.
Ist beispielsweise Letzteres nicht der Fall, kann die Software automatisch eine Liste der benötigen Hardware, Kabel, Softwarelizenzen generieren und bei Bedarf auch in digitaler Form an den Einkauf weitergeben. Sie liefert zusätzlich noch detaillierte Anweisungen für Dienstleister vor Ort, die die geplanten Erweiterungen oder Veränderungen vornehmen sollen. Dabei ist das System in der Lage, mit Echtzeit-3D-Animationen zu arbeiten und exakte Hinweise für den spezifischen Einsatzort zu erzeugen. Als direkt synchronisierter digitaler Zwilling ist das digitale Spiegelbild eine 1-zu-1-Kopie der Wirklichkeit.
Bild 2: Digitaler Zwilling eines Rechenzentrums: Dank der 3D-Visualisierung lassen sich zum Beispiel Racks und ihre konkrete Bestückung im realitätsgetreu abbilden und optimal planen.
Ein Klick vom Planungs- zum Ist-Zustand
Die Aufträge an die Dienstleister übernimmt das Workflow- und Arbeitsauftragsmanagement der IT-Dokumentationslösung. Das hat den großen Vorteil, dass die im digitalen Zwilling geplanten Änderungen direkt ins „echte“ System transferiert werden und letztlich mit nur einem Klick der geplante Soll-Zustand als neuer Ist-Zustand übernommen wird. Eine Erfassung der neuen Module oder Komponenten entfällt. Das senkt die Kosten und stellt sicher, dass der Zwilling mit geringem Aufwand immer eine synchrone Kopie der Wirklichkeit bleibt. Damit diese Wirklichkeit immer auf realen Fakten und Daten basiert, sind Abgleiche mit Autodiscoverydaten und durch Schnittstellen zu den aktiven Managementsystemen weiterhin notwendig. Sie erfahren allerdings eine erfolgskritische Ergänzung und dienen mehr der absichernden Bestätigung.
Erweiterungen und Veränderungen führen mit einem digitalen Zwilling nicht zu den typischen Überraschungen, die bei Planungen im stillen Kämmerlein mit lückenhafter IT-Dokumentation nahezu zwangsläufig auftreten. Dieses Vorgehen macht eine schnelle, effiziente und vor allem problemarme Umsetzung möglich und sichert einen störungsfreien Betrieb sowie ein effizientes Kapazitätsmanagement.
Voraussetzungen für digitale Zwillinge
Die notwendige Startvoraussetzung für den erfolgreichen Einsatz eines digitalen Zwillings ist die Herstellung eines initialen Datenbestandes. Dieser muss lückenlos die gesamte IT- und Netzwerkstruktur eines Unternehmens beinhalten. Gerade vor dem Hintergrund der bereits erwähnten Defizite eventuell vorhandener Dokumentationen oder von Rivalitäten zwischen Abteilungen erscheint dies im ersten Moment eine hohe Hürde zu sein.
Gute IT-Infrastruktur-Dokumentationslösungen vereinfachen die Datenerfassung jedoch deutlich. Zum einen enthalten sie entsprechende Fähigkeiten und Funktionen zur schnellen, direkten Übernahme und Konsolidierung von vorhandenen Dokumentationsdaten. Sie stellen dafür mächtige Integrationswerkzeuge sowie vordefinierte Schnittstellen und Plugins zu gängigen Managementsystemen zur Verfügung. Die rein technischen Aspekte von Datenübernahmen und Systemintegrationen werden so wesentlich erleichtert.
Zum anderen helfen etablierte und bewährte Einführungsmethodiken: zum Beispiel, die gesamte Infrastruktur in Segmente zu unterteilen. Dies kann sowohl entlang der darüberliegenden Service-Portfolios, räumlich-regional oder nach den eingesetzten Technologien geschehen. Mittels einer an die Projektziele angepassten Segmentierung und Priorisierung der Auf- und Übernahme von Daten lässt sich schnell ein digitales Abbild der wichtigsten Bereiche schaffen und erfolgreich nutzen. Weniger bedeutsame Segmente der Infrastruktur können dann im Anschluss sukzessive vervollständigt werden. Der Initialaufwand für die lückenlose Erfassung der Infrastruktur ist dann gar keine so große Hürde mehr und macht sich durch die Vorteile bei allen künftigen Erweiterungen, Anpassungen und Umstrukturierungen der Infrastruktur schnell mehr als bezahlt.