Ein ganzheitlicher Blick, Daten, Digitalisierung und der Einsatz von KI sind die großen Trends im Supply-Chain-Kosmos. Lucien Besse, COO von Shippeo, Reinhard Pölzl, AVP Solutions Consulting bei e2open und Kai Althoff, CEO von 4flow tauschen sich über diese Trends aus. Die Experten sind sich einig: Silos gehören der Vergangenheit an.
Unser Blick auf Supply Chains hat sich in den letzten Jahren grundlegend gewandelt. Die Pandemie war ein Katalysator hin zu einem datengetriebenen Blick auf Lieferketten. Geopolitische Ereignisse, regulatorische Anforderungen und Kundenerwartungen haben den Bedarf an Transparenz deutlich erhöht. Warum gab es diesen Bedarf vorher nicht?
Lucien Besse: „Es gibt viele Möglichkeiten, sich dem Begriff der Transparenz in einer Supply Chain zu nähern. Der Bedarf war immer da. Supermärkte wollten immer wissen, wann der Lkw mit der Ware ankommt, Verlader mussten ihre Pünktlichkeit abschätzen können, um Strafzahlungen vorzubeugen. Genauso verlässt sich die Automobilindustrie, die Just-in-Time und Just-in-Sequence arbeitet, auf pünktliche Lieferungen. Wir schauen inzwischen wesentlich ganzheitlicher auf die Supply Chain, um Transparenz zu erlangen.“
Reinhard Pölzl: „Die Organisation von Supply Chains ändert sich mit der technologischen Entwicklung. Unsere “modernen” Lieferketten sind Mitte des 20. Jahrhunderts entstanden und waren damals schon komplex. Sie wurden deshalb wurden in verschiedene Bereiche aufgeteilt – von Bedarfsplanung, über Produktionsplanung, Fertigung und Transport. Diese Silos arbeiteten nebeneinander mit verschiedenen Blickwinkeln auf die Supply Chain. Inzwischen verfügen wir über die technologischen Möglichkeiten, ganzheitlich auf diese Silos zu schauen und sie aufzubrechen.“
Kai Althoff: „Wir erleben derzeit ein Level an Unsicherheit, wie wir es vorher nicht gekannt haben. Das jüngste Beispiel ist die Präsidentschaftswahl in den USA, die Auswirkungen auf den internationalen Warenverkehr haben wird. Die vielen Unabwägbarkeiten wecken das Bedürfnis, stärker vorausschauend zu planen, zu analysieren und mehr Kontrolle zu erlangen. Der Bedarf an Transparenz ist daher deutlich gestiegen.
In diesem Zusammenhang wird immer über die Bedeutung von Daten gesprochen. Dabei fällt die teilweise schon inflationäre Phrase, wonach Daten das neue Öl seien…
Lucien Besse: „Um Transparenz in Supply Chains herzustellen, brauchen wir nicht einfach nur Daten, wir benötigen hochwertige Daten, um verlässliche Prognosen zu ETAs und möglichen Verspätungen treffen zu können. Daraus generieren wir Handlungsempfehlungen und automatisieren Prozesse, um Supply Chains zu steuern, die uns helfen, Störungen vorzubeugen oder diese schnell zu beheben. Daten helfen aber auch dabei, aus Zwischenfällen und vergangenen Ereignissen zu lernen.“
Reinhard Pölzl: „Entscheidend ist, was ich mit den Daten mache. Sie bilden die Basis für verschiedene Anwendungen, die für die Steuerung einer Supply Chain erforderlich sind. Je besser und aktueller die Daten, desto akkurater die Ergebnisse. Wir haben gemeinsam mit Shippeo für einen Maschinenhersteller für den Bergbau, eine Plattform entwickelt, das bestehende Silos aufbricht und zusammenführt. Dort laufen Daten zusammen, die aus dem gesamten Netzwerk stammen – nicht nur aus dem Unternehmen selbst, aber auch von Zulieferern, Kunden oder Logistik-Dienstleistern. Auf diese Weise konnten wir einen Control Tower installieren, der dem Unternehmen einen ganzheitlichen Blick auf seine Supply Chain ermöglicht.“
Kai Althoff: „Jedes Glied in der Supply Chain hat seine eigenen Anforderungen an Daten. Für Versender ist Transport eine austauschbare Standardleistung, die sich vor allem über den Preis definiert. Verlader brauchen deshalb Daten, um einen günstigen Preis anbieten zu können und um den Auftrag auch möglichst kosteneffizient zu erfüllen. Mit diesen Daten schaffen sie sich selbst und gegenüber ihren Kunden Transparenz. Entscheidend ist dabei immer, welches Problem mit dem Einsatz von Daten und Datenanalyse gelöst werden soll.“
Wir sind im Jahr 2024. Wer Daten sagt, muss auch KI sagen.
Lucien Besse: „Je hochwertiger die Daten, desto besser können die Algorithmen arbeiten. Aus diesem Grund legen wir bei Shippeo großen Wert auf Datenqualität. Wir nutzen KI für die Prognose von ETAs und um die Wahrscheinlichkeit von Ereignissen vorherzusagen. Hinzu kommt die Automatisierung von Prozessen. KI kann nicht nur Handlungsempfehlungen geben, sondern auch die Planung und Umsetzung von Entscheidungen übernehmen. Das kann sie besser als der Mensch, weil sie große Datenmengen schnell und vorurteilsfrei bearbeitet und Verknüpfungen herstellt.“
Reinhard Pölzl: „Die Technologien, die uns heute zur Verfügung stehen, helfen uns, Supply Chains effizienter und widerstandsfähiger zu gestalten, als es vor zwanzig, dreißig Jahren noch denkbar war. Das erfordert aber einen Mentalitätswandel, weg vom weit verbreiteten Silo-Denken. Wenn wir die vorhandenen Daten für eine ganzheitliche Sicht auf die Supply Chain nutzen, bietet KI einen echten Mehrwert.“
Kai Althoff: „Sicherlich ist KI ein Game Changer, gerade im Supply-Chain-Umfeld. Einen großen Effekt sehen wir in der Robotik. Natürlich gibt es einen Hype um generative KI und Anwendungen wie ChatGPT. Auch Disziplinen wie S&OP und Transportplanung werden in Zukunft weiter von KI profitieren, wenn diese Prozesse fortlaufend automatisiert werden. KI wird uns unter anderem helfen, schneller zu werden.“
Supply Chains werden auch in Zukunft Störungen erfahren – sei es aufgrund von geopolitischen Veränderungen, Klimawandel oder Ereignissen, die niemand vorhersagen kann. All dies hat Auswirkungen auf Planung und Transport. Wie gut sind wir gewappnet?
Lucien Besse: „Es wird immer Supply-Chain-Störungen geben. Trotzdem ist die beste Störung die, die gar nicht erst auftritt. Wir sind dann gewappnet, wenn wir Transparenz in den Supply Chains haben und aus Zwischenfällen lernen, anstatt einfach nur auf den nächsten zu warten. Das ist die größte Herausforderung: Mit Daten und Technologie dafür sorgen, dass Supply Chains antifragil werden, also sich stetig verbessern. Wird dieser Zustand jemals erreicht werden? Die Möglichkeiten sind vorhanden, zumindest nahe dran zu kommen.“
Reinhard Pölzl: „Störungen sind immer Ereignisse, die wir nicht kommen sehen. Aber sie sind nie singulär, sondern geschehen in einem größeren Kontext. Daher ist die Draufsicht auf die Supply Chain so wichtig, denn sie erlaubt uns, die Auswirkungen abzuschätzen. Doch weil es viel zu berücksichtigen gilt, ist es auch so schwierig. Der Mensch alleine kann nicht alles im Blick halten, bevor etwas passiert. Darum brauchen wir KI und Automatisierung, um schnell entscheiden und reagieren zu können. Wir können Störungen abfedern und vorausschauend handeln. Aber dafür müssen wir die verfügbaren Mittel einsetzen.“
Kai Althoff: „Wir sehen, dass Supply Chains immer diverser und komplexer werden, weil Unternehmen sich breiter aufstellen und nach Alternativen suchen. Einerseits werden sie dadurch robuster, andererseits schwerer zu steuern. Daher benötigen wir Digitalisierung und Automatisierung, müssen Zusammenarbeit fördern und Silos abbauen. Letztlich befinden sich Supply Chains im ständigen Wandel, um resilienter und effizienter zu werden. Nur, wenn wir über die klassischen Silos hinausschauen, die einzelnen Glieder im Austausch stehen und wir Technologie sinnvoll einsetzen, werden wir den notwendigen Wandel meistern.“
(pd/Shippeo)