Serie Teil 6/10

Dematerialisierung: Die Digitalisierung rauscht noch an den Bilanzen vorbei

Die Neuverteilung der Welt, Internet der Dinge, Künstliche Intelligenz, Blockchain und Sharing-Economy – das sind die bisherigen Themen dieser zehnteiligen Serie. Zeit, ein Zwischenfazit zu ziehen: Wie steht es wirklich um die digitale Reife des Standorts Deutschlands? Sind die Unternehmen, von denen viele Konzerne oder „Hidden Champions“ zur Elite der Weltwirtschaft gehören, in der digitalen Transformation wirklich angekommen?

Landauf, landab haben die Unternehmen Projekte und Initiativen angestoßen, um sich in den zunehmend vernetzten und digitalen Märkten neu zu positionieren. Viele waren ins Jahr 2017 mit großen digitalen Ambitionen gestartet. Es schien ein Jahr des Auf- und Umbruchs zu werden. Doch von der Euphorie und Pionierstimmung ist nicht viel übriggeblieben. Wenn wir von neuland mit Unternehmen reden – wir haben in den letzten Monaten über 80 intensive Interviews geführt – dann stoßen wir oft auf verunsicherte Ansprechpartner, spüren „digitalen Frust“, der sich bei Entscheidern und Unternehmen im vergangenen Jahr breitgemacht hat. Nur wenige Gesprächspartner klingen zuversichtlich. Bei vielen verblasst bereits wieder die Motivation, die Digitalisierung mit Verve anzugehen. Es fehlt an Inspiration. Die Frage nach dem „Warum?“ hängt nach offenbar ernüchternden Erlebnissen wieder unbeantwortet in der Luft. Weil es alle machen? Weil Digitalisierung irgendwie ein Muss ist? Das sind, wen wundert´s, keine Ansätze, um Führungskräfte und Mitarbeiter für die Digitalisierung zu begeistern.

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Die Essenz der Klagelieder: Die Digitalisierung erfolgt zu langsam. Die Organisation der Unternehmen erweist sich als zu starr, überhaupt nicht agil. Der kulturelle Wandel kommt, wenn überhaupt, nur langsam voran. Einige Gesprächspartner sehen mit Sorge, dass ihr Wettbewerb schneller als sie selbst transformiert. Neue Player aus dem Ausland, aus anderen Branchen oder gar Start-ups schnappen nach ihren Marktanteilen. Mehrere Befragte fürchten, vom Markt verdrängt zu werden. Deutlich vernehmbar ist die Klage, dass geeignetes Personal fehlt und die Belegschaft die entscheidenden Skills vermissen lasse. In einigen Unternehmen fehlt der Fokus auf die Transformation oder gar die Strategie. Anders gesagt: Die Unternehmensspitze führt nicht.

Digitaler Frust erstickt den Aufbruch

Die neuland-Interviews zeichnen kein repräsentatives Bild der deutschen Unternehmerschaft. Die Trendaussagen finden jedoch ihren Widerhall in anderen Untersuchungen. Zuletzt kam eine Lünendonk-Umfrage unter mehr als 120 Großunternehmen und Konzernen zu ähnlichen Resultaten. Bemerkenswert: In zwei Drittel der Unternehmen werden digitale Geschäftsmodelle noch innerhalb tradierter, klassischer Organisationsformen und Prozesse gefahren – also mit angezogener Handbremse. Gleichzeitig sehen sich nur weniger als ein Drittel der Unternehmen führend beim Aufbau von Netzwerken und Partnerschaften, wie sie in der Wirtschaft 4.0 und im Internet der Dinge notwendig sind, um für die Kunden neue, überlegene Werte zu schaffen. Darüber hinaus bereitet es den Unternehmen Schwierigkeiten, ihre Digitalstrategien zu operationalisieren und ihr digitales Geschäft zu vermarkten. 60 Prozent sehen sich dabei allenfalls auf Augenhöhe mit ihren Wettbewerbern. Im Klartext: Weder komplexe Kaufentscheidungsprozesse („Customer Journey“) noch die Möglichkeiten im Omnichannel-Vertreib sind so tief durchdrungen, dass es für Alleinstellungsmerkmale in Marketing, Service und Vertrieb reicht.

So verdichtet sich der Eindruck, dass die Digitalisierung den Unternehmen nicht als große Chance, als Anreiz zu großen Ideen und Visionen erscheint, sondern eher wie die betörende Nixe in Goethes Gedicht „Der Fischer“: „Da war’s um ihn geschehn. Halb zog sie ihn, halb sank er hin. Und ward nicht mehr gesehn.“ Viele Unternehmen sind im Zuge des „Digitalen Darwinismus“ schon untergegangen, haben die Zeichen der Zeit nicht erkannt und zu spät oder zu träge auf veränderte Kundenbedürfnisse oder den technologischen Wandel reagiert. Bei Kodak können sie es sicher nicht mehr hören, dass ihr Unternehmen immer wieder als Musterbeispiel für den digitalen Darwinismus herhalten muss. Aber die Umstände, unter denen die einstige Weltmarke gescheitert ist, sprechen immer noch Bände: Als Weltmarktführer für analoge Fotografie sah Kodak durchaus, dass die digitale Fotografie das Kerngeschäft bedrohen würde. Daraufhin ließ das Management die Digitalkameras entwickeln, die eine Zeit lang zu den besten der Welt gehörten. Aber es gelang nicht, das Unternehmen wirklich auf das neue Geschäft auszurichten. Kodak wollte ein bisschen digital sein, aber weiter mit seinen Negativ- und Diafilmen, seinen Fotopapieren und Entwicklungslabors Geld verdienen. Der digitale Darwinismus schlug erbarmungslos zu: 2011 schlitterte der Konzern in die Insolvenz. Heute hat er sich, deutlich verkleinert, auf das professionelle Druckgeschäft konzentriert. Kodak hat digitalisiert. Aber nicht genug.

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Natürlich gibt es auch in Deutschland Unternehmen, die die Dynamik der Digitalisierung erfasst haben und die richtigen Schlüsse für sich, ihre Mitarbeiter und ihre Geschäftsmodelle ziehen. VW als weltweit größter Autobauer zum Beispiel schien ja lange in eine Kältestarre verfallen zu sein, wenn es um neue Strategien für die digitale Zeit ging. Mittlerweile überschlagen sich die Ankündigungen der Wolfsburger zu autonomen Fahren, E-Mobility und vernetzten Verkehrssystemen. Chief Digital Officer Johann Jungwirth hat angekündigt, dass Volkswagen in vier Jahren in mehreren Städten autonome Fahrdienste anbieten will und verspricht sich ein „superprofitables Geschäft“ durch selbstfahrende Fahrzeuge.

Aber die neugewonnene Euphorie des Volkswagen-Konzerns mögen viele Unternehmen nicht teilen. Bei vielen stellt sich die Erkenntnis ein, dass viele Projekte fehlgeleitet waren, Technologie und Strategie nicht verzahnt wurden und den Prozessen zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Den Gipfel der Verunsicherung spiegeln Studienergebnisse, nach denen Unternehmer die mangelnden digitalen Fähigkeiten der Mitarbeiter kritisieren, ohne sie je dafür qualifiziert zu haben. Währenddessen gewinnen Belegschaften den Eindruck, dass es mit der digitalen Überzeugung und Qualität der Unternehmensspitze nicht weit her ist. Was läuft da schief? Wie kann es sein, dass die Initiativen zur Digitalisierung derart ins Leere laufen und ratlose Manager und Mitarbeiter zurücklassen?


Lesen Sie auch die anderen Beiträge der Serie „Dematerialisierung“:

Teil 1: Dematerialisierung – Die Neuverteilung der Welt

Teil 2: Dematerialisierung – Die neue Infrastruktur des Wohlstands

Teil 3: Dematerialisierung – Willkommen, KI!

Teil 4: Dematerialisierung: Blockchain – das Betriebssystem der vernetzten Welt
Teil 5: Dematerialisierung: Sharing Economy – Teilen ist das neue Haben
Teil 6: Dematerialisierung: Die Digitalisierung rauscht noch an den Bilanzen vorbei


Der Kern der Digitalisierung

Die Antwort: Die Unternehmen dringen noch nicht zum Kern der Digitalisierung vor. Sie scheuen den Sprung ins Wasser, kühlen sich lieber mit ein paar Spritzern ab. Viele Ansätze klingen zwar nach Digitalisierung und haben auch etwas mit digitaler Technologie zu tun, bewirken aber keine echte Transformation. Anders und präziser gesagt: Digitalisierung bedeutet in vielen Unternehmen noch, analoges, tradiertes Geschäft effizienter zu gestalten. Die einen investieren in digitales Dokumentenmanagement, die meisten in digitales Marketing und Social Media, wieder andere bringen Apps heraus, mit denen ihre Kunden physische Produkte besser nutzen können, Hersteller springen auf den Industrie-4.0-Zug auf und machen ihre Produktion „smart“.

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Kein Niederschlag in der GuV

Alles löbliche und wichtige Ansätze, die zwei Eigenschaften gemeinsam haben: Sie bringen erstens kein wirklich digitales Geschäft und tauchen zweitens deshalb folgerichtig nicht in der Bilanz auf. Die Digitalisierung hat die Gewinn- und Verlustrechnung (GUV) noch nicht erreicht. In den meisten Unternehmen optimiert die Digitalisierung analoges Geschäft. Vorhandene, erste zaghafte Versuche mit digitalen Geschäftsmodellen erzielen noch nicht die erwarteten Effekte. „Zu umsatzstarken digitalen Services ist in den Geschäftsberichten der TOP500-Unternehmen kaum etwas zu finden“, urteilt Accenture in der Analyse „Digitale Geschäftsmodelle – Modelle ohne Geschäft?“

Was unterscheidet aber echtes digitales Geschäft von tradiertem? Entscheidend sind monetarisierbare Mehrwerte aus Daten. Sie entstehen aus Plattform-Strategien, im Internet der Dinge, durch 3D-Druck und innovative Serviceleistungen wie „predictive maintenance“. Daten sind der entscheidende Faktor in den neuen Wertschöpfungsnetzwerken, die rund um Produkte und Services entstehen. Sie bilden den „digitale Zwilling“ ab, der physikalische Produkte mit der Netzwelt verbindet. Auch Künstliche Intelligenz wird erst dann digital produktiv, wenn sie aus Daten überraschende, innovative Services generiert. Wenn sie, wie es bereits geschieht, zur Bearbeitung von Vertragsdokumenten und Schadensfällen bei Versicherungen eingesetzt wird, dann entsteht daraus kein digitaler Umsatz. An der Automobilindustrie lässt sich dieses Dilemma derzeit gut ablesen: Die beiden Premiummarken Daimler und BMW verdienen ihr Geld natürlich im Moment weiter über den Verkauf von Autos. Egal, wie viele Websites, CRM- und Händlerinformationssysteme, Email-Newsletter et cetera dabei zum Einsatz kommen – der Umsatz findet sich nicht als digitales Geschäft in den Bilanzen. Mit den – noch geringen – Erlösen aus den Car-Sharing-Services, die beide Konzerne betreiben, sieht es anders aus: Sie rühren aus einem Plattformgeschäft, aus der Vermittlung von Transportleistung.

Paradigmenwechsel zu Software und Services

Die Wirtschaft der Zukunft basiert auf Software und Services. Diesen Paradigmenwechsel hat die produktverliebte deutsche Wirtschaft noch nicht inhaliert. Deshalb entgehen ihnen die riesigen Skaleneffekte digitaler Geschäftsmodelle. Deshalb profitieren sich noch nicht von sinkenden Grenzkosten, die rein digitaler Wertschöpfung innewohnt: Jedes Auto, jede Maschine und jede Anlage kostet tausende bis hunderttausende Euros, bevor sie einem Kunden angeboten werden können. Eine Software, eine App, einem weiteren Nutzer zur Verfügung zu stellen, kostet fast nichts. Aber es ist Besserung in Sicht: Viele Unternehmen streben in diese neue betriebswirtschaftliche Realität, die nicht mehr von Dingen, sondern von Daten geprägt wird. Bosch zum Beispiel forciert massiv die Vernetzung seiner Produkte, setzt auf das Internet der Dinge. Siemens hat mit „Mindsphere“ ein cloudbasiertes Betriebssystem für die IoT-Welt im Programm. DHL denkt darüber nach, die Logistikservices durch 3D-Druck zu ergänzen. Warum ein Gut durch die Weltgeschichte transportieren, wenn man es auch nahe beim Empfänger printen kann? SAP als mittlerweile wertvollste deutsche Marke dreht das Softwaregeschäft immer stärker hin zu cloudbasierten Plattformlösungen.

Es geht also; deutsche Unternehmen können auch „digital“. Aber viele Unternehmen müssen sich der Datensphäre mutiger, entschiedener zuwenden, wenn sie sie den Anschluss nicht verpassen sollen. Doch der anhaltende Boom der deutschen Wirtschaft steht dem im Wege. Wer in vollen Auftragsbüchern liest, sieht auf den ersten Blick keinen Grund für einen tiefgreifenden Wandel. Deshalb begnügen sich Unternehmen allzu oft damit, ihr bestehendes Geschäft mit digitalen Mitteln inkrementell zu verbessern. Damit sichern sie vielleicht ihr Geschäft im nächsten Jahr, aber nicht ihren Erfolg in fünf Jahren. Und sie erzeugen keine Aufbruchsstimmung. Transformation ist mehr eine Frage der Führung, Kultur und Kommunikation denn der Technologie. Als inneren Antrieb bedarf es einer kraftvollen Vision – für das Unternehmen, seine Mitarbeiter und vor allem für seine Kunden. Dann schieben die Mitarbeiter auch keinen Frust, sondern gehen die Digitalisierung (wieder) begeistert an.

Karl-Heinz LandKarl-Heinz Land ist Digital Evangelist und Gründer der Strategie- und Transformationsberatung neuland sowie Sprecher der Initiative Deutschland Digital (IDD).

www.neuland.digital

 

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