Erfolgsfaktor Schätzmethoden: Einsatz und Nutzen

Die Suche nach einer ganzheitlichen Schätzmethode für IT-/Softwareprojekte rückt in vielen Unternehmen zunehmend in den Mittelpunkt. Die Recherche überwissenschaftlich relevante Literatur in der EU zu Schätzmethoden gleicht jedoch einem Hindernisparcours.

Unter einem Sammelsurium an Informationen finden sich kaum repräsentative Studien oder seriöse Publikationen. Dabei haben Wissenschaftler weltweit betrachtet ca. 100 Methoden publiziert. Es ist zu vermuten, dass der Umfang tausendseitiger Spezifikationen und die Komplexität der Methodenbeschrei-bungen abschreckend wirken. Resultierend aus mangelnden oder gar falschen Kenntnissen über Schätzmethoden hat sich ein falsches „Naturgesetz“ im Denken etabliert: IT-/Softwareprojekte sind im Vorfeld nicht abschätzbar oder exakt planbar.

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Ziel von Schätzmethoden

Im Kontext von Methoden versteht man unter „Schätzen“ die genäherte Bestimmung beliebiger Werte (etwa Aufwand, Zeit, Kosten, Ressourcen, etc.) mittels beliebiger Verfahren (Kennzahlen, Analogien, Heuristik, Stochastik, Parametrik etc). Erste methodische Ansätze, um IT-/Softwareprojekte im Vorfeld abzuschätzen, wurden bereits 1961 publiziert. Das primäre Ziel der Wissenschaft ist die Schaffung einer verlässlichen Planungsgrundlage, um den „Störfaktor Mensch“ weitgehend zu minimieren. Voraussetzung dafür ist eine motivationsfreie Schätzung unter Berücksichtigung aller relevanten Faktoren. Dies wird durch den systematisierten Umgang mit allen Hard- und Softfacts sichergestellt.

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Begriffserklärung Schätzmethoden
Schätzmethoden können grundsätzlich zwischen Sizing- und Estimierungs-methoden differenziert werden. Während Sizingmethoden und ihre Metriken (Hardfacts) zur Größenbestimmung von Projekten entwickelt wurden, beschäf-tigen sich Estimierungsmethoden mit der Identifikation und Gewichtung von Einflussfaktoren (Softfacts/Kostentreiber) und deren Impact  auf Aufwand und Zeit. Aufgrund der Vielzahl von Schätzmethoden, wurden seitens der Wissen-schaft im Laufe der Jahre verschiedene Klassifizierungen für Schätzmethoden entwickelt, um eine Auswahl der am besten geeigneten Methode zu erleichtern.

Sizingmethoden
Die Sizingmethoden bestimmen den Umfang des Projekts (Hardfacts)mittels unterschiedlicher Verfahren und dienen dem Transfer von Spezifikationen und Ausprägungsmerkmalen in methodenspezifische Eingangsgrößen beziehungs-weise deren Metriken. Es sind circa zwei Dutzend wissenschaftlich publizierte oder de-facto Industriestandard Sizingmethoden bekannt. Prinzipiell werden verschiedene Kategorien unterschieden, wie zum Beispiel analogiebasiert oder funktional. Die bekannteste analogiebasierte Methode ist die Experten-schätzung. Die anerkannt beste Weise diese systematisiert durchzuführen ist die Breitband-Delphi-Methode. Bei den parametrischen Methoden sind in diesem Zusammenhang die Funktionspunkte (Function Points) und Source-Lines-Of-Code (SLOC) zu nennen. Sizingmethoden besitzen jeweils unter-schiedliche Metriken, entsprechend der Umgebung (Domain) für die sie ent-wickelt wurden. Die am weitesten entwickelten Sizingmethoden berücksich-tigen zudem die verschiedenen Abgrenzungen in Softwareprojekten, von Neuentwicklung über Wiederverwendung von Modulen/Komponenten (REUSE) bis zur Integration von Fremdsystemen, die sogenannten Commercial-Off-The-Shelf (COTS). Darüber hinaus unterstützen einige auch Hybriden wie Migration, Modernisierung und Package Implementation.

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Estimierungsmethoden
Es sind mehrere dutzend wissenschaftlich publizierte, meist auch verifizierte Estimierungsmethoden bekannt. Sie identifizieren Einflussfaktoren (Softfacts) und deren Gewichtung zur Bewertung der Projektgröße und dementspre-chenden Einfluss auf Aufwand und Zeit. Das Ziel ist die systematische Nutzung der unternehmens- und projektspezifischen Kenntnisse über Kostentreiber und deren Rating mit positivem beziehungsweise negativem Einfluss auf das IT-/Softwareprojekt. Im Allgemeinen werden in jedem Projekt folgende Gruppen von Softfacts differenziert, wie zum Beispiel Organisation, Personal, Projekt, Produkt und Plattform, die jeweils wiederum spezifische Faktoren enthalten. Abhängig vom Projekt werden nach obigem Muster weitere spezifische Gruppen von Softfacts genutzt wie Daten, Domain und Internet. Je nach Estimierungsmethode hat man nur einen Faktor zum Beispiel Produktivität bis hin zu unendlich vielen Faktoren, die sogar selbst definiert werden können. Die wohl bekannteste Estimierungsmethode ist COCOMO II. Sie kennt die drei Submodelle Application Composition, Early Design und Post Architecture. Fälschlicherweise wird COCOMO II nur mit der zuletzt genannten gleichgestellt.

Fachgerechter Einsatz von Schätzmethoden

Voraussetzung für zuverlässige Ergebnisse ist der fachgerechte Einsatz der Methoden. Wesentlich ist hierbei die Erkenntnis, dass es keine allgemein gültige Formel gibt, die eine realistische Aufwands-, Zeit-, Kosten- und Ressourcenschätzung der vorherrschenden, vielfältigen Komplexitäten erlaubt. Jede Sizingmethode hat ihre eigenen Rahmenbedingungen, Regeln und Eingangsgrößen, welche nur im entsprechenden Kontext gültig sind. Sie sind daher nicht universell einsetzbar, das heißt nicht jede Sizingmethode ist für jedes Projekt gleich gut geeignet. Aufgrund der stetig steigenden Anfor-derungen besteht die Herausforderung in der Praxis darin, die optimale Methode zu finden, anzuwenden und im Idealfall auf die spezifische Umgebung zu kalibrieren. Der Schlüssel realistischer Schätzungen liegt in der gezielten Integration und Kombination praxisbewährter Methoden und Modelle. Viele Sizingmethoden spiegeln ihr Einsatzgebiet und -zweck bereits in ihrem Namen wider. So werden zum Beispiel UML Use- Case Points eingesetzt, falls UML im Projekt eingesetzt wird, während für Web-Frontends die Internet-Points am geeigneten sind. Dies gilt nicht für Function Points, die meist im Bereich Backend-Systeme eingesetzt werden und auch nicht für Feature-Points die am besten in Embedded- und Echtzeit-Systemen funktionieren. Bei Neuentwick-lungen steht meist kein Source-Code zur Verfügung. Deshalb braucht man Sizingmethoden zur Ermittlung und Normierung von äquivalenten SLOCs, als Größe für weitere Berechnungen. Auch Einflussfaktoren sollten stets nur in dem für sie gültigen Kontext und in definierten Rahmenbedingungen eingesetzt werden. Softwareprojekte scheitern häufig weil keine Schätzmethode eingesetzt wurde, oder die gewählte Methode außerhalb ihrer Spezifikation verwendet wurde. Gescheiterte Projekte und die Unkenntnis über Schätzmethoden stützen insofern die falsche Aussage, Estimierungsmethoden funktionieren nicht. Im Gegenteil, sie funktionieren nachweislich sehr gut, wenn sie innerhalb ihrer Spezifikation oder gemäß der für sie entwickelten und definierten Rahmenbedingungen eingesetzt werden.

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Isolierung unerwünscht

Einen entscheidenden Einfluss auf die Zuverlässigkeit der Schätzergebnisse besitzt die Wahl des Prozessmodells. Sollen Schätzungen zu Aufwand und Zeit gemacht werden, macht es einen Unterschied, ob acht Aktivitäten eines Wasserfallmodells abgearbeitet werden, oder 727 Aktivitäten gemäß eines Rational Unified Process (RUP) Classic in einer SOA-Umgebung. Prozess-modelle sind elementare Bestandteile von Projekten beziehungsweise eines Produktlebenszyklus. Sie definieren Phasen, Aktivitäten, Rollen, Richtlinien und vieles mehr und dienen der Beherrschung der Komplexität von Projekten. Prozessmodelle stellen eine Abstraktion der bestehenden Entwicklungs-prozesse dar und steuern den Projektablauf. Grundsätzlich werden Prozess-modelle unterschieden in sequenzielle, iterative, agile und Meta-Modelle. In der Praxis wird die Korrelation zwischen Prozessmodellen und Schätzmethoden häufig unterschätzt. Die Wahl des Prozessmodells beeinflusst unmittelbar die potentiellen Projektrisiken und damit den Erfolg eines Projekts. Darüber hinaus ist die Zuverlässigkeit der Ergebnisse davon abhängig welcher Projekttyp vorliegt. Der Projekttyp repräsentiert bereits die Kalibrierung einer Methode bezogen auf das Softwareprojekt, das heißt bei gleichen Eingangsgrößen erhält man abhängig von der Domain in der man sich bewegt, gänzlich andere Ergebnisse. Projekttypen werden unterschieden in Internet, Groupware, Data Warehouse, Content Management oder Management Information System MIS, Mobile Applications, Embedded und so weiter.

Genauigkeit von Methodenschätzungen

Es ist vielfach belegt, dass Methodenschätzungen erheblich zuverlässiger sind als Expertenschätzungen. Die Gründe liegen insbesondere in den kürzeren Technologiezyklen, der ständig steigenden Komplexität und den damit verbun-denen fehlenden Erfahrungswerten. Selbst mit systematisch durchgeführten Expertenschätzungen (Breitband- Delphi) werden nur 25% aller Projekte mit einer Abweichung von ±20% geschätzt. Integrierte methodische Ansätze erzielen inzwischen bei 100% aller IT-/Softwareprojekte eine Abweichung von ±10%, zwischen Schätzung und späteren Ist-Daten. Damit unterstützen sie den erfolgreichen Abschluss des Projekts mit allen gewünschten Funktionen in «Time & Budget».

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Ergebnisse und Nutzen

Alle bekannten Schätzmethoden haben eines gemeinsam, sie liefern stets nur den Gesamtaufwand und –zeitbedarf. In Kenntnis interner oder externer Kostensätze können zusätzlich die Gesamtkosten ermittelt werden. Unter-nehmen erwarten jedoch Transparenz über Aufwand- und Zeitbedarf in jeder Phase (Exit-Strategie), zu jeder Rolle (Architekten, Programmierer, Projekt-manager) und alle Einzelaktivitäten. Die Ermittlung aussagekräftiger, detaillierter Ergebnisse über den gesamten Lifecycle erfordert die syste-matische Erweiterung, Integration und Kombination wissenschaftlicher Metho-den einschließlich Qualitätsmethoden und Risikofaktoren. Integrierte metho-dische Ansätze erlauben bereits vor Projektstart realistische Schätzungen zu Aufwand, Zeit, Kosten und Ressourcen einschließlich Risiken, Fehlern und Dokumentationsumfang. Schätzmethoden ermöglichen zudem die zuverlässige Bestimmung von Target-Costs von Softwareprojekten, die nicht mit den bekannten Verfahren aus der Betriebswirtschaft ermittelt werden können. Die objektive Reproduzierbarkeit des reellen Gegenwerts der zu erstellenden Leistung stärkt das Vertrauensverhältnis zwischen Auftraggeber und Anbieter. Eine ganzheitliche Lösung zur realistischen Schätzung aller relevanten Faktoren erzielt in jeder Phase, Rolle und Einzelaktivität zu jedem Zeitpunkt vollständige Transparenz über den gesamten Lifecycle. Durchgängiges Kosten- und Prozess-controlling wird dadurch erheblich vereinfacht. Damit werden Einsparungs- und Kostensenkungspotentiale bereits im Vorfeld sichtbar. Methodische Schät-zungen erhöhen die Planungssicherheit bei gleichzeitiger Risikominimierung und erlauben die bedarfsgerechte Ressourcenbereitstellung. Im Zusammen-wirken mit Prozessmodellen und in Kenntnis über die Rollen im Projekt ermöglichen Schätzmethoden die Generierung zuverlässiger Projektpläne, die nicht auf subjektiven Einschätzungen beruhen. Ein intelligenter methodischer Ansatz ermöglicht die Simulation verschiedener Szenarien und Analysen (Mach-barkeits-, What-if-, Outsourcing-Analysen) mit einer Vielzahl weitreichender Optionen zur werthaltigen Realisierung der IT-/Softwareprojekte und Steigerung der Leistungsfähigkeit des Unternehmens. In Multi Project Manage-ment Umgebungen unterstützt gezielter Methodeneinsatz zudem optimales Ressourcenmanagement zur konstanten Kapazitätsauslastung über alle Projekte und im Idealfall sogar über das gesamte Unternehmen hinweg. Ein praxisbewährter Schätzprozess stellt die initiale und projektbegleitende Schätzung sicher, das heißt selbst bei laufend veränderten Anforderungen und Projektbedingungen gewährleistet der flexible Einsatz der Methoden die Sicherstellung einer zuverlässigen und stets reproduzierbaren Schätzung. Durch den gezielten Einsatz von Schätzmethoden entsteht ein weitreichender und nachhaltiger Nutzen bereits vor Projektstart:
° Planungssicherheit und Fehlervermeidung
° Vollständige Transparenz zur Risikominimierung
° Hohe Zeit- und Ressourceneinsparungen
° Standardisierung und Plausibilisierung
° Effizienz- und Produktivitätssteigerung.

Fazit

Schätzmethoden bieten dem Top-Management im Rahmen werthaltiger Strategieentwicklung durch effektiven IT-Einsatz nachhaltige Unterstützung bei der Realisierung spezifischer Unternehmensziele, wie etwa Effizienz- und Produktivitätssteigerung, Wachstum, Kostenreduktion, Prozessoptimierung, Plausibilisierung oder Evaluierung. Zur effizienten Umsetzung der individuellen Ziele nehmen der Einsatz von Schätzmethoden und die Verankerung eines methodischen Schätzprozesses stetig an Bedeutung zu. Der hohe Nutzen integrierter Ansätze liegt in der vollständigen Transparenz über alle relevanten Faktoren des gesamten Lifecycle bereits vor Projektbeginn. Realistische Schätzungen und reproduzierbare Ergebnisse bilden die solide Grundlage für eine zuverlässige Planung und sichere Steuerung selbst komplexester IT-/Softwareprojekte. Die durchgängige Sicht über alle Faktoren reduziert Finanz-, Projekt- und Geschäftsrisiken und ermöglicht die Steigerung der Wettbe-werbsfähigkeit und die wirtschaftliche Optimierung der Geschäftsprozesse entlang der Wertschöpfungskette bei gleichzeitiger Risikominimierung. Der intelligente Einsatz von Schätzmethoden unterstützt professionelles Prozess- und Projektmanagement gleichermaßen wie strategische Ziele des Ressourcen- und Kostenmanagements, der Innovations- und Sourcingstrategie und des Qualitäts- und Risikomanagements. Entscheidend für den Methodeneinsatz ist die Kenntnis, dass Methoden nur in dem für sie gültigen Kontext arbeiten. Die praxisbewährte Funktionalität der Methoden erfordert die systematische Integration und Kombination der Methoden einschließlich des fachgerechten Einsatzes. Deshalb besitzt die Wahl eines seriösen Lösungsanbieters mit umfassender Methodenkompetenz und Toolunterstützung eine elementare Bedeutung. Eine integrierte, intelligente Lösung muss den vollen Nutzen aus den Methoden gewährleisten, auch wenn der Anwender nicht über spezifische Methodenkenntnisse verfügt oder an wochenlangen Schulungen teilgenommen hat. Der gezielte Einsatz von Schätzmethoden eröffnet eine Vielzahl einzig-artiger Perspektiven und werthaltiger Potentiale für effektive IT-/Software-projekte – schnell, einfach, sicher und zuverlässig. Schätzmethoden bieten folglich eine perfekte Unterstützung, können jedoch den Menschen mit all seinen Fähigkeiten nicht ersetzten.

PATRICIA BURKERT-ESPICH

Diesen Artikel finden Sie auch in der Ausgabe September 2008 des it management.

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