Um Quantencomputer in Zukunft in der Pharmaindustrie effektiv einsetzen zu können, müssen die potenziellen Einsatzfelder klar definiert und komplexe Forschungsfragen beantworten werden. Die Basis dafür ist eine innovative IT-Landschaft. Wie kann sich der Weg zum industriellen Einsatz gestalten?
Unternehmen wie Boehringer Ingelheim bereiten sich bereits vor.
Bisher können Quantencomputer nur das schneller lösen als herkömmliche Rechner, was speziell auf sie zugeschnitten ist. Quantum-Supremacy-Experimente, zu Deutsch Quantenüberlegenheitsexperimente, beweisen ihre Fähigkeiten auf abstrakten mathematischen Problemen. In Zukunft sind insbesondere in der Molekülforschung und -entwicklung aber auch deutliche praktische Fortschritte möglich. Als eines der weltweit führenden forschenden Pharmaunternehmen setzt Boehringer Ingelheim immer auf neueste Technologien, um auch künftig innovative Therapien für Menschen und Tiere zu entwickeln.
Quantenalgorithmen – eine neue mathematische Welt mit überlagerten Zuständen
Klassische Algorithmen einfach auf Quantencomputer zu übertragen, ist dabei keine Option. Denn Quantencomputer werden grundlegend anders programmiert und benötigen daher neue Algorithmen. Deshalb ist es entscheidend, neben der Entwicklung der Quantenhardware und der Identifizierung geeigneter industrieller Anwendungen passende Quantenalgorithmen zu schaffen.
Während klassische Bits die Zustände 0 oder 1 annehmen können, ist es möglich, dass Qubits gleichzeitig in beiden Zuständen vorkommen (Superposition) und außerdem mit anderen Qubits verschränkt werden. So können Quantenalgorithmen bestimmte Berechnungen schneller durchführen als klassische Algorithmen – wie zum Beispiel das Zerlegen von Primzahlen. Quantengatter, die in diesem Zuge zu Quantenschaltkreisen zusammengeschaltet werden, erzeugen so Superpositionen und Verschränkungen. Zukünftig werden sie die heutigen Computer nicht ersetzen, sondern ergänzend spezielle Rechenaufgaben lösen, die mit klassischen Rechnern unlösbar sind. Heutige Quantencomputer haben maximal mehreren Hunderte Qubits und sind sehr fehleranfällig. Für industrielle Anwendungen benötigt es Quantencomputer mit Millionen von Qubits und Quantenfehlerkorrektur.
Anwendungsfelder für Quantencomputing
Für die Primzahlzerlegung sind die Vorteile einer Quantenberechnung bereits mathematisch bewiesen. Die Annahme, dass es für klassische Computer schwierig ist, Zahlen in ihre Primzahlen zu zerlegen, ist die Grundlage vieler heutiger Verschlüsselungsmethoden. Trotzdem ist die Sorge unberechtigt, dass Quantencomputer in den nächsten Jahren vorhandene Verschlüsselungen knacken: Wissenschaftler gehen davon aus, dass etwa 20 Millionen Qubits benötigt werden, um aktuelle Schlüssel zu entschlüsseln.
Travelling Salesman Problem (TSP)
Optimierungsaufgaben sollen zur Verbesserung der Effizienz von Lieferketten oder Produktionsprozessen die beste aus einer Vielzahl möglicher Lösungen finden. Ein Beispiel ist das Traveling Salesman Problem. Hierbei möchte ein Reisender die größten Städte eines Landes besuchen und dabei die kürzestmögliche Strecke zurücklegen. Bei zehn Städten ergeben sich bereits etwa 200.000 möglichen Routen. Verdoppelt man die Zahl der Städte, so sind es bereits zirka 60 Billionen Alternativrouten.
In der Praxis ist die exakte Lösung jedoch häufig nicht nötig: Eine Abweichung von nur wenigen Kilometern ist in den seltensten Fällen entscheidend. So wurde zum Beispiel bei einem globalen TSP mit annähernd zwei Millionen Städten mit einem klassischen Computer eine approximative Lösung gefunden, die nur um 0,05 % von der tatsächlichen Lösung abweicht.
Bessere Forecasts dank Maschinellem Lernen
Ein weiteres Anwendungsfeld zukünftiger Quantencomputer ist Machine Learning (ML). Es wird vermutet, dass ein Quanten-Machine-Learning-Algorithmus die Genauigkeit von Vorhersagen verbessern oder Iterationen beim Training verringern könnte. Dafür müssen die benötigten Daten jedoch erst auf dem Quantencomputer vorliegen. Für die aufwendige Übertragung benötigt man einen zweiten Quantenalgorithmus. Das Problem: Die Zeit, die es benötigt die Daten einzulesen, könnte den Quantenvorteil im Nu zunichte machen.
Besser sieht es aus, wenn Daten bereits auf dem Quantencomputer vorliegen, beispielsweise durch eine vorher ausgeführte Quantenberechnung. Beispielsweise könnten mehrere Quantenberechnungen miteinander verknüpft werden, wobei eine anfängliche Quantenberechnung als Eingabe für den Quanten-Machine-Learning-Algorithmus dient. Allerdings fällt dies eher in den Bereich der Spekulation als in der etablierten Forschung.
Simulation Quantenmechanischer Systeme
Das vielversprechendste Einsatzgebiet ist die Simulation quantenmechanischer Systeme, beispielsweise um komplexe Moleküle für die Arzneimittelentwicklung zu simulieren. So wäre es zudem möglich, dass Quantencomputer einen entscheidenden Anteil an der Entwicklung neuer Materialien in der chemischen Industrie oder der Verbesserung von Batterien für die Automobilbranche haben werden.
Bei der Simulation eines Moleküls geht es im ersten Schritt darum, die quantenmechanische Schrödinger-Gleichung der Elektronen zu lösen. Man sucht dabei nach dem energetisch niedrigsten Elektronenzustand, der Grundzustandsenergie. Mit herkömmlichen Rechensystemen ist es bereits für Moleküle mit wenigen Atomen und Elektronen unmöglich, diese Aufgabe exakt zu lösen. Ungenaue Ergebnisse können dazu führen, dass Reaktionen zwischen Molekülen nicht korrekt vorhergesagt werden.
Auf der Suche nach dem Quantenvorteil
Quantenberechnungen werden besonders interessant, wenn es darum geht, die Elektronenstruktur von Molekülen zu bestimmen, bei denen herkömmliche klassische Algorithmen an ihre Grenzen stoßen. Um einen Vorteil bereits mit den ersten zukünftigen fehlerkorrigierten Quantencomputern zu finden, sollte das Molekül jedoch eine überschaubare Größe haben, da sonst zu viel Rechenleistung benötigt werden würde. Ein Beispiel für ein solches Molekül ist der FeMo-Cofaktor, welcher eine Schlüsselrolle bei der Stickstofffixierung und damit in der Düngerproduktion spielt. Auch die P450-Enzyme, die für den Abbau vieler Medikamente im menschlichen Körper verantwortlich sind, gehören in diese Kategorie.
Die Quantenalgorithmen für die heutigen fehleranfälligen Quantencomputer lassen sich hingegen nur auf sehr kleine Moleküle wie Lithiumhydrid (LiH) oder Wasserstoff (H2) anwenden, welche auch klassisch zu berechnen sind. Ließen sich in Zukunft Quantenvorteile für den FeMo-Cofaktor oder dem P450-Molekül erzielen, wäre das ein wissenschaftlicher Durchbruch und ein erster Schritt in Richtung industrielle Anwendungen. Für weitere Anwendungen wie die Simulation der Moleküldynamik sind passenden Quantenalgorithmen noch zu entwickeln.
IT-Umgebung als Forschungs- und Innovationsabenteuer
Obwohl Quantencomputing in der Pharmabranche noch am Anfang der Forschung steht, könnten noch in diesem Jahrzehnt erste industrierelevante Anwendungsbeispiele generiert werden. Ein Fokus liegt dabei auf der chemischen Arzneimittelforschung, und Boehringer Ingelheim hat dazu ein eigenes Quantum Lab aufgebaut. Auch Kooperationen wie etwa zwischen Boehringer Ingelheim und Google, innovativen Start-ups oder Universitäten sind unerlässlich. Denn für den Start in eine neue Computing-Ära mit industriellen Quantencomputing-Anwendungen braucht es nicht nur fehlerkorrigierte Quantencomputer mit Millionen von Qubits, sondern auch die Erforschung industrierelevanter Anwendungen und Algorithmen.